Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Sonntag, 18. September 2016

Ein weiteres Mal...

Vor wenigen Stunden bist du ein weiteres Mal gestorben - und wieder stand ich hilflos daneben, zum Zusehen und Warten verurteilt ohne den Hauch einer Chance, auch nur irgendetwas aufhalten, ändern, beeinflussen zu können. Ich hasse diese Rolle als passiver Betrachter... Also konzentriere ich mich auf die Dinge, die ich zumindest ein wenig beeinflussen kann. 
Deine letzten Stunden... dieses Mal mit der grausamen Gewissheit, dass es wirklich passieren wird. Ich bin nur noch Eis, schon vormittags. Luke ist beim Fußballspiel, Ada auf einem Kindergeburtstag. Sie bekommen zum Glück nichts von meiner Verfassung mit. Ich weiß nicht wohin mit mir, bis Druck und  innere Unruhe so groß werden, dass ich meine Laufschuhe anziehe. Allein die Entscheidung, in welche Richtung ich laufen soll, verlangt mir schon so viel ab. Ich kann heute nicht durch den Bahnwald und am See entlang - zu viele Erinnerungen, das packe ich nicht, also laufe ich Richtung Dellwig, schreie innerlich, und finde anfangs doch keine Entlastung. 
Es ist 11:25 Uhr...im letzten Jahr ein Donnerstag. Zu dieser Zeit müsste ich bereits in Hamm in der Klinik angekommen sein, in der du seit sechs Tagen liegst - im künstlichen Koma... Ich löse Micha ab. Wir haben ein kleines Zimmer im Schwesternwohnheim auf dem Klinikgelände bezogen, um auch in der Nacht in deiner Nähe sein zu können. Lila. Ich erinnere mich an geschmacklose lila Deko in diesem kalten Zimmer mit Linoleumboden. Lila Kunstblumen auf dem Tisch? Ich bin mir nicht mehr sicher. Trotzdem bin ich dankbar für dieses Zimmer in deiner Nähe. Micha schaut besorgt, als ich ihn ablöse. Wir sind ganz nah bei dir auf der Intensivstation. Du siehst gar nicht so schlimm verletzt aus - von außen betrachtet. Du liegst einfach nur ruhig da, als ob du lediglich schlafen würdest. Ein Bluterguss am Auge, Schwellungen, Schrammen... Aber die CT- und Röntgenbilder sagen etwas anderes. Der Tubus in deinem Hals schreckt mich nicht, ich habe ihn schon allzu oft in der Vergangenheit, bei Vianne gesehen. Er hält dich am Atmen. Die Ärzte mussten den Tubus am Mittwoch wechseln, weil er undicht war. Dabei wurde ein weiteres Stück aspirierten Materials in deiner Lunge gefunden. Du hast dadurch eine schlimme Lungenentzündung bekommen... es ist übel. Seitdem verschlechtert sich deine Sauerstoffsättigung, deine Lungen werden nicht richtig belüftet. Du hast Fieber, das nur schwer in den Griff  zu bekommen ist, trotz zahlreicher Medikamente. Das ist der Stand der Dinge am Donnerstagvormittag. 
Micha fährt schließlich nach Hause, um bei Luke und Ada zu sein. Ich lese dir, wie so oft in den letzten Tagen,  aus dem Buch "Nordkorea" vor, das du von Tao bekommen hast, immer in der Hoffnung, dass meine Stimme zu dir durchdringt, dass dir Taos Buch die nötige Kraft geben wird, um zu kämpfen. Ich erzähle dir von zuhause. Irgendwann kommt ein Pfleger in dein Zimmer (du hast ein Einzelzimmer auf der Intensivstation). Er macht solche Andeutungen, dass es gar nicht gut aussieht. Ich bin besorgt, aber ich hoffe, dass du dich nach dem Tubuswechsel erholen wirst, schließlich konnten sie doch das vereiterte Stück entfernen... Die Ärzte kommen. Oder war es nur ein Arzt? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Sie wollen dich in ein spezielles Lagerungsbett packen, um die Lunge besser belüften zu können. Es ist eine Gradwanderung, weil du ein schweres Schädel-Hirntrauma durch den Sturz erlitten hast und deinem Kopf so viel Ruhe wie möglich gegönnt werden soll. Bisher ist dein Hirndruck stabil. Sie haben eine spezielle Hirndrucksonde in deinen Kopf gelegt. Ich habe die Zahlen darauf ständig im Blick. Ebenso deine Sauerstoffsättigung, die weiterhin zu fallen scheint, trotz mittlerweile hundertprozentiger Zufuhr. Ebenso deine Temperatur, die trotz äußerer Kühlung kaum runtergeht. Angst kriecht in mir hoch und schlingt ihre tastenden Tentakel um mein Herz. Nein! Du kannst nicht sterben. Vianne ist gerade erst gestorben. Nach Wahrscheinlichkeitsrechnung darf das hier alles gar nicht passieren.  Die Ärzte meinen, dass dieses spezielle Bett so schnell wie möglich eingesetzt werden soll. Es sei schon auf dem Weg in die Klinik. Die Neurochirurgen hätten "grünes Licht" für den Einsatz gegeben. Während des Umbettens werde ich gebeten, die Intensivstation zu verlassen. Es ist früher Nachmittag. Ich dürfe später wieder vorbeikommen, so in anderthalb Stunden, versichert man mir. Ich küsse dich noch einmal. Ich will nicht gehen. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, wo ich die anschließende Zeit verbracht habe. Im Krankenhausbistro? Im Zimmer? Ein Spaziergang im Park? Nach anderthalb Stunden gehe ich zurück und bediene die Sprechanlage im Wartezimmer. Ich werde vertröstet, ich müsse noch etwas warten. Andere Besucher kommen, drücken die Sprechanlage und werden eingelassen. Ich rufe Micha an. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl und bitte ihn, zurückzukommen. Es ist mittlerweile später Nachmittag. Wir sitzen gemeinsam im Wartezimmer, angespannt, ängstlich, besorgt und drücken in regelmäßigem Abstand die Sprechanlage und warten, dass wir eingelassen werden. Irgendwann bekommen wir von einer Schwester die Info, dass das Lagerungsbett nicht zum Erfolg geführt hat und dass der Hirndruck unter der Therapie angestiegen ist. Nun wollen sie dich wieder zurückbetten. Wir sollen warten. In diesem nüchternen, grell erleuchteten Wartezimmer. Ich gehe auf und ab, ab und auf, wie ein Tiger in einem viel zu kleinem Käfig. Fünf Schritte in die eine, fünf Schritte in die andere Richtung. Ein besonderer Mensch hat mir einmal den Rat gegeben: weiterlaufen...immer weiterlaufen. Schließlich wird jede Minute des Wartens zur Qual. Wir warten, während du schon um dein Leben gekämpft hast... Hast du gekämpft? Oder hast du dich bewusst entschieden aufzugeben, weil deine Kopfverletzungen vielleicht so schwer waren, dass du so nicht leben wolltest? Was hast du gedacht....? Hast du noch gedacht....? Was hast du wahrgenommen...? Was empfunden....? Es ist ungefähr acht Uhr am Abend. Die Tür zur Intensivstation geht auf. Ein älteres Pärchen, dass kurz zuvor erst eingelassen worden war, muss die Station bereits wieder verlassen. "Irgendetwas stimmt hier nicht", schreit es in mir. Alle meine Alarmglocken gehen an. Angst, tiefe zähe Angst würgt mich. Irgendetwas passiert gerade... Wenig später steckt ein Arzt seinen Kopf kurz aus der Tür heraus und sagt nur wenige Worte: "Wir reanimieren gerade - ich muss wieder zurück." Ich bin ruhig... viel zu ruhig... ich sterbe gerade mit... Im Wartezimmer hängt ein Kreuz. Ich glaube nicht an die Kirche und nicht an den von Menschen gezeichneten Gott aus der Bibel. Trotzdem falle ich auf die Knie. Gebe ein Versprechen ab. Bete. Verzweifelt. Eine Stunde später öffnet sich die Tür zur Intensivstation erneut. Dieses Mal kommen zwei Ärzte... 
Wir gehen zu dir.... ein letztes Mal. Wir durften nicht an deiner Seite sein, als du gestorben bist... Verzeih mir!

Ich habe Ada und Luke heute Abend beim Zubettbringen gefragt, was sie dir sagen möchten. 
Ada: "Dass ich ihn lieb habe und ihn vermisse. Ich weiß manchmal gar nicht mehr, wie das war, als er noch bei uns war. Das ist ganz seltsam. Jesse war ein lustiger Kerl! Aber ich weiß noch, dass er Vianne und mir immer geholfen hat, wenn wir Streit mit Luke hatten."
Luke: "Du Mistkerl! Ich bin ganz allein!"

Gute Nacht, Jesse!
"Meine Seele zu deiner Seele, mein Herz zu deinem Herz." Das waren meine Worte, mein Versprechen an dich, als du erst wenige Wochen alt warst... ich habe dich liebevoll betrachtet, während du geschlafen hast, und mein Herz quoll über vor Liebe...

Freitag, 16. September 2016

Vertrauen in andere...

für Luke und Ada (und natürlich auch für dich, kleine Vianne) für Fynn, Tao, Kai, Alisa, Tom, Marvin, Theresa, Rafael...




"Vertrauen in andere haben viele, Vertrauen in sich selbst nur wenige." (Jesse Stember, 2011)


Ich bin soweit. Es hat lange gedauert, ich habe lange gehadert mit mir. Würde Jesse es wollen? Diesen Blog? Ich sehe ihn gerade vor mir sitzen an unserer Küchentheke, eine Augenbraue (zumindest eine halbe) hochziehend, mich herausfordernd, halb belustigt anschauend...ein leichtes, überlegendes Grinsen im Gesicht, das verräterisch in seinem Mundwinkel zuckt, gepaart mit einem Hauch Ironie und Sarkasmus. Und dann würde sie losgehen, die Diskussion, die hitzige Debatte... Wie sehr mir das fehlt... Jesse hätte auch gewusst, dass ich nicht so leicht klein beigebe. Ja, dieser Blog tut mir gut - alles andere wäre gelogen - denn der Blog hilft, einen Teil von Jesse zu bewahren. Für mich, aber euch für euch, die ihr Jesse im Herzen tragt. Und das hätte Jesse gefallen...weil ihr - die Famile und  ihr - die engsten Freunde - ihm sehr sehr wichtig ward! Es gibt so viele Geschichten, die erzählt werden möchten, es gibt so viele Erinnerungen, die zu schade sind, als dass sie irgendwann in der hintersten Gedächtnisschublade verstauben und natürlich gibt es auch immer Dinge, die nicht erzählt werden wollen.
Muss dieser Blog öffentlich sein oder soll ich ihn lediglich für einen ausgewählten Kreis öffnen? Nur: Darf ich entscheiden, wer letztendlich zu diesem ausgewählten Kreis gehört? Die Familie natürlich, unsere engen Freunde, die Jesse von Geburt an kennen und lieben gelernt haben. Und natürlich Jesses Freunde. Ich kenne  zwar einige von Jesses (engsten) Freunden - aber eben nicht alle und es gab so viel mehr Menschen in Jesses Lebensumfeld, die ihn wertgeschätzt haben und die ich vielleicht nicht im Blick habe - und die möchte ich nicht ausschließen...
Ja, ich möchte euch hier von Jesse erzählen...vieles wird euch vertraut vorkommen und Erinnerungsbilder aufleuchten lassen, einiges wird euch ein Schmunzeln entlocken, anderes wird euch vielleicht erstaunen. Aber all das war Jesse - in seiner ganzen außergewöhnlichen und liebenswerten Persönlichkeit, die nicht nur mich fasziniert hat...