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Samstag, 9. Dezember 2017

Elternsprechtag

Hey Jesse!
Der November hat mich ausgelaugt, hat mir mehr abverlangt, als ich im Vorfeld  befürchtet hatte: Ich wusste, dass zu viele herausfordernde Termine anstanden, und doch hatte ich den irrsinnigen Gedanken (oder war es vielleicht Hoffnung???), dass ich da irgendwie gut durchkommen würde. Vortrag, Tagung und Lesung haben letztendlich auch gut geklappt. Du wärst wahnsinnig stolz auf mich gewesen, mein Großer, das weiß ich. Du hast mich immer ermutigt, beruflich durchzustarten. Aber es hat mich auch viel gekostet ... nicht in monetärer Hinsicht. Erst die kleinen, nervigen, unangenehmen Dinge, die im normalen Leben so passieren, haben wir ganz deutlich vor Augen gehalten, wie fertig ich bin. Denn dabei verspürte ich häufig so eine immense Wut, dass es mir absolut egal war, was mein Umfeld in diesem Moment von mir dachte. Diese Wut richtete sich kürzlich geballt gegen diese absolut scheußlich unmotivierte, mürrische,  sich an unsinnige bürokratische Bestimmungen haltende Dumm-Nuss der Deutschen Bahn. Hi! Gereiztheit ist mein zweiter Vorname. Bei der Bahn-Story wärst du inhaltlich absolut auf meiner Seite gewesen, weil ich genau weiß, wie du dich oftmals über die Bahn und deren Mitarbeiter aufgeregt hast. Du konntest dich da wahnsinnig hineinsteigern und hast dir an unserer Küchentheke ein ums andere Mal empört Luft gemacht. Lauthals gelacht habe ich bei deiner Beschwerde-Email an die DB. Ja: sie war arrogant, triefend vor Ironie, in Absätzen über die Stränge schlagend, unverschämt - und so dermaßen lustig und unterhaltsam! Sehr gelungen für einen 15-Jährigen. Ich muss gerade schmunzeln ... JESSE, du fehlst mir. Deine Ironie fehlt mir. Dir hätte es zwar auch nicht unbedingt gefallen, wie ich mich im DB-Center aufgeführt habe, es wäre dir irgendwie peinlich gewesen und du hättest mich später sanft getadelt, dass ich es auch hätte subtiler, ironischer verpacken können. Aber du wärst andererseits beeindruckt gewesen, weil ich in diesen Momenten so unglaublich selbstsicher und bestimmt bin. Und es war befreiend, weil ich ansonsten erstickt wäre an meiner angestauten Wut und Verzweiflung. Ein Ventil.... Was es nun mit dieser Bahn-Geschichte auf sich hat? Luke spielt darin die Hauptrolle. Er hatte es geschafft, irgendwie seine Stammkarte zu verbummeln, es aber nicht für nötig erachtet, uns davon zu erzählen oder eine neue zu beantragen. Somit ist er immer nur mit dem entsprechenden Monatsticket gefahren - ohne die Stammkarte. Daraufhin hat ihm eine übereifrige Kontrolleurin eine "Nacherhebungsgebühr" aufgebrummt - 60 Euro - obwohl sich Luke als Schüler ausweisen konnte. Von der Gebühr wird Abstand genommen (bis auf einen läppischen Betrag von rund 7 Euro), wenn man innerhalb einer vorgegebenen Frist seine gültige Fahrkarte für den Zeitpunkt der Fahrt nachweist.Wir machten uns also auf den Weg zum Kundencenter am Schwerter Bahnhof, denn: har har, am Iserlohner Bahnhof gibt es noch nicht einmal ein richtiges DB-Kundencenter. Sie dürfen dort zwar Fahrkarten verkaufen, nicht aber solche Nacherhebungssachen behandeln. Einmal hätte es es gewagt, erklärte der wirklich engagierte, freundliche Mitarbeiter, daraufhin habe er von oberster Stelle eine Rüge wegen Kompetenzüberschreitung bekommen mit der Aussage, er wäre zu kundenfreundlich, har har... darüber muss sich die Mitarbeiterin in Schwerte wohl keine Sorgen machen. Luke hatte mittlerweile eine neue Stammkarte, aber, da bereits der 1.Dezember war, nicht mehr die geforderte November-Marke dabei (die die "nette" Zugbegleiterin ja bereits gesehen und deren Daten wahrscheinlich notiert hatte). Jedenfalls bemängelte Mrs. Bahn-Frohnatur nun die fehlende November-Monatsmarke (die Luke blöderweise jetzt nicht mehr hatte, weiß der Himmel wo die mittlerweile abgeblieben war). Also weigerte sie sich -  total regelkonform - die 60 Euro-Gebühr fallen zu lassen. Ich habe ihr anschließend vor Publikum sehr klar, direkt und deutlich zu verstehen gegeben, was ich davon halte...
Vor wenigen Tagen war ich zu Lukes Elternsprechtag an "deiner" Schule. So viel verbinde ich dort mit dir. Ich sehe dich dort überall, sehe, wie du freudig-aufgeregt neben Kai an deinem ersten Schultag im Eingangsbereich stehst, sehe dich neben mir in der Aula sitzen und den Ausführungen zur Q-Phase lauschen, warte auf dich am Hemberg-Parkplatz...Ich bin an deiner Schule an dem Tag, an dem du verunglückst - es ist der Tag der offenen Tür. Jedes Mal, wenn ich an das Märkische Gymnasium komme, überfällt mich eine tiefe Traurigkeit. Schon auf dem Weg zum Elternsprechtag flossen meine Tränen. Allerdings blieb mir kurz darauf kaum noch Zeit, traurig zu sein, weil Luke 'mal wieder die Termine vertauscht hatte und ich hektisch von einem Raum zum nächsten hetzen musste. Dann sah ich Frau S. Du hast sie nie kennengelernt. Du warst bereits tot. Sie ist eine solch liebenswerte Frau, die Ada und Luke sehr einfühlsam durch die erste Trauerzeit begleitet hat. Sie hat normalerweise nichts mit dem MGI zu tun, doch im Rahmen eines Kooperationsprojektes stand sie an diesem Tag im Schul-Foyer... und wieder kamen mir die Tränen. Kurz darauf traf ich deine Lieblingslehrerin, die mir so sehr ans Herz gewachsen ist. Sie fragte mich, ob ich einen Moment Zeit hätte. Wir saßen gemeinsam im Bio-Raum - in deinem Raum! "Dort oben, ganz rechts außen, da hat Jesse immer neben Fynn gesessen..." Unser beider Augen schimmerten verdächtig  bei der Erinnerung an dich. Sie erzählte mir, dass sich alle deine engsten Freunde auch an deinem diesjährigen Todestag am Seilersee versammelt und auf dich angestoßen haben... Zeit mit dir verbracht haben. Ich war so dermaßen ergriffen von dieser Nachricht. Die Jahre zuvor waren wir dabei gewesen, doch in diesem Jahr hätten wir nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass sie sich mit Esther dort treffen, schließlich geht jeder mittlerweile seinem Studium oder Praktikum, seiner Ausbildung oder anderen Dingen nach. Du hast solch wertvolle Menschen um dich gehabt, Jesse! Und sie stehen noch immer an deiner Seite. Ich hoffe, dass du es irgendwie sehen/fühlen/spüren kannst, wo immer du auch sein magst. Deine Freunde! All die Menschen, die dich geschätzt und geliebt haben: was für ein Geschenk. Ich bin so ergriffen und erschüttert in einem....
Kais Tat hat mich bis in die Tiefen meines sich zersetzenden, selbst zerfleischenden  Herzens berührt: ihr beiden kennt euch seit dem Kindergarten, habt gemeinsam Hennen und und später die weitere Umgebung erkundet, ward zusammen am Gardasee und seid mit den bikes den Monte Baldo hinunter gefahren, habt euch in Österreich wilde Skirennen geliefert und euch später im Restaurant total lustig daneben benommen, habt euch bei euren Skateboard-Tricks gefilmt - sogar während ihr übel auf die Nase gefallen seid -  und sicherlich so viele dumme, gefährliche, lustige Sachen gemacht, von denen ich besser nichts weiß.
Großartig! Danke...