Sag mir: Hattest du Schmerzen? Was hast du verspürt, als du auf diesen verdammten Waschbetonplatten aufgeschlagen bist? Jonas hat dich gefunden. Er und Daniel waren letztes Jahr auf unsere Bitte hin bei uns, um von deinem Sturz, um von deinen letzten Stunden und Minuten zu erzählen - um von diesem verheerenden Wochenende zu erzählen. Hast du Angst gehabt, als du gemerkt hast, dass du fällst? Du bist nach dem Sturz noch einmal kurz zu dir gekommen - das hat Jonas uns erzählt. Was hast du wahrgenommen? Was hast du in diesem Moment gedacht? Was gefühlt? Oder warst du so dermaßen unter Schock, dass du gar nichts gedacht und gefühlt hast??? Es macht mir zu schaffen, dass ich nicht weiß, wie es dir ergangen ist, während deine Lebenszeit ablief. Ich habe dich zum Tennisplatz gebracht, von wo aus ihr aufgebrochen seid. "Gib auf dich acht!", waren meine letzten Worte an dich. Wie wenig sie doch bringen... Du hast nicht auf dich acht gegeben, hast in diesem Alter noch gar nicht auf dich acht geben können. Du wirktest immer so viel weiter, älter, erfahrener... Ich habe dir noch Spaß gewünscht... Als ich di ch das nächste Mal wiedergesehen habe - rund 11 Stunden später - lagst du im künstlichen Koma und konntest nicht mehr mit mir sprechen, deine Augen geschlossen.
Es ist über zwei Jahre her... Es ist gefühlt wenige Minuten her... Kai ist im August 18 Jahre alt geworden, Fabs ist im Januar 18 Jahre alt geworden. Ich habe es noch nicht geschafft, den beiden persönliche Worte zu schreiben und ein Geschenk zu überreichen. Auch Noahs Geschenk zum 18. - ein Wakeboard-Tag mit uns - haben wir noch nicht umgesetzt. Auch du wärest jetzt 18 Jahre alt - was für ein besonderer Geburtstag! Mein Verstand weiß, dass das "wäre" und "hätte" und "würde" nur blockiert und so überflüssig ist - mein Herz weiß es nur noch nicht. Wie kann ich jemanden loslassen, den ich mehr als mein eigenes Leben geliebt habe (und ich liebe mein eigenes Leben sehr).
Du warst so besonders, bereits als Kind. Mit fünf Jahren hast du eine Zeitlang gestottert, weil deine Gedanken so viel schneller als deine Mundmotorik waren. Es hörte sich niedlich an. Natürlich habe ich mir auch Sorgen gemacht, aber es war trotzdem niedlich. Du hattest in diesem Alter auch einen imaginären Freund, der am Frühstückstisch neben dir saß. Einmal hast du uns empört zurechtgewiesen, dass der Platz schon besetzt sei und konntest gar nicht verstehen, dass wir niemanden dort haben sitzen sehen. Beim Feueralarm in der 1. Klasse in der Grundschule bist du vor lauter Panik fast aus dem Fenster gehüpft und deine Lehrerin rief mich noch am selben Tag an, um sich nach dir zu erkundigen. Als Kind haben dir einige Dinge Angst gemacht: wackelnde und sprechende Plüschtiere, Clowns, Wasser, Puppentheater... Wer dich einige Jahre später kennengelernt hat, konnte sich dich als kleinen, ängstlichen Jungen nur noch schwerlich vorstellen, insbesondere nicht, wenn man dir beim Skate- oder Snowboarden zugesehen hat. Du warst so ein selbstbewusster, tiefgründig-charismatischer Mensch mit sehr präzisen Vorstellungen und trotzdem vielen Fragen an die Welt und das Leben - manchmal zweifelnd, oft selbstkritisch. Aber so ein paar Ängste hast du beibehalten (wie wir alle): Tao hat mir einmal lächelnd erzählt, dass du dich als Jugendlicher vor deinem eigenen Schatten gefürchtet hättest... Du bist nie mit der Masse gegangen: bei der Wahl der weiterführenden Schule war es dir nicht wichtig, welcher deiner Freunde sich ebenfalls für diese Schule interessiert. Du wusstest, wo du hin wolltest - bereits mit 9 Jahren! Philosophische Fragestellungen haben dich gepackt. Dein Freundeskreis: ebenso außergewöhnlich wie du. Deine Philosophielehrerin hat mir nach deinem Tod etwas für mich sehr Wertvolles ausgehändigt: eine schriftliche Kopie deiner Ausführungen zu folgenden Fragestellungen deiner Lehrerin:
"Wofür sind Sie dankbar?"
"Ich bin für jeden Tag, an dem ich meine Familie und mich glücklich sehen darf, dankbar. Ich freue mich, dass ich leben darf und jeden Tag meine Umgebung und mich selber wahrnehmen darf. Ich will nicht nach dem Motto 'Lebe jeden Tag als wäre es dein letzter' leben. Ich bin dankbar für jede Facette, die mir das Leben bietet. Sei es nun eine gute oder schlechte. Das Leben ist viel zu wertvoll um seine Zeit darauf zu verschwenden, wie man am Optimalsten lebt."
"Wovon haben Sie sich befreit?"
"Ich habe mich befreit, mich über Dinge aufzuregen, die nicht von Belangen sind. Es könnten einem immer noch schlimmere Sachen widerfahren. Seid glücklich über jeden Tag in eurem Leben, freut euch über jede Kleinigkeit, denn das ist den meisten Menschen bedauernswerterweise schon lange verloren gegangen."
Du warst erst 15!!! Jahre alt, als du diese Worte geschrieben hast. Wie spannend es gewesen wäre, deinen weiteren Lebensweg miterleben zu dürfen. Ich bin so froh, dass du einmal selbst am Steuer unseres Autos gesessen hast, dass du zumindest diese Erfahrung noch machen durftest, wo dir doch so viele weitere Erfahrungen verwehrt bleiben werden. Auf dem "Weilandshof" bist du mit dem Touran mehrere Runden um die Scheune gefahren, während ich eingriffbereit und achtsam auf dem Beifahrersitz saß - und hast es verdammt gut hinbekommen und über das ganze Gesicht gelacht. Das war kurz nach Viannes Tod, im Juli 2015, sechs Wochen vor deinem Tod.Wie schön es war, dich auch nach dieser schlimmen Zeit einmal wieder so frei lachen zu hören, nach 'all den schweren Monaten/ Jahren, die du tapfer mitgetragen hast, gefangen zwischen Viannes Krankheit und deiner persönlichen Reifung zum jungen Mann .Du warst erst 12 Jahre alt, fast 13, als bei Vianne der Tumor diagnostiziert wurde. Die folgenden zwei Jahre haben Micha und ich versucht, zwischen den aufwändigen Therapien und der ständigen Sorge um Vianne für dich und Luke und Ada da zu sein. Ich glaube, wir haben es gut gemacht. Und trotzdem haben wir in dieser Zeit auch manches in deinem Leben nicht unmittelbar miterleben können - Zeit, die mir nun mit dir fehlt - wertvolle Zeit, die ich nie wieder haben werde. Und wieder könnte ich schreiend vor den nächsten Baum treten, mit solch einer inbrünstigen Wut in mir, die ein Erdbeben auslösen könnte. Ich habe eine Verpflichtung dir und mir gegenüber: Nein! Eher eine herausfordernde, wunderbare Aufgabe. Für dich werde ich leben, jeden Tag dankbar genießen, Erfahrungen sammeln, die Faszination und Absonderlichkeit dieser Welt ergründen, offen sein für das Leben in mir und um mich herum, Sachen bewegen, die mir/ die uns wichtig erscheinen, mich einsetzen und zurückhalten, staunen, aus ganzer Seele heraus lachen und lieben, voller Demut und Ergriffenheit. Ich hoffe so sehr, dass ich diesem Weg, den ich schon einmal ein paar unsichere Schritte beschritten habe, weiterhin gehen kann und nicht resigniere. Es ist eine Chance... es ist ein Aufbruch. Angst und Zweifel und Resignation bringen mich immer wieder auf dunkle, verschlungene, kraftraubende Pfade - führen, entführen, verführen - wollen mich abhalten von meinem Weg. Sie verschleiern ihn, machen ihn unkenntlich. Manchmal folge ich diesen drei mächtigen Gegenspielern und verirre mich, 'mal bringen sie mich weiter von meinem Weg ab, mal kann ich ihn noch aus den Augenwinkeln erspähen - bisher habe ich ihn aber noch immer wieder gefunden, auch wenn ich erst am Anfang stehe. Es wird Zeit aufzubrechen - auszubrechen aus diesem Käfig aus Schmerz. Für dich! Für mich! Für uns! Bitte hilf mir dabei.
"Wofür sind Sie dankbar?"
"Ich bin für jeden Tag, an dem ich meine Familie und mich glücklich sehen darf, dankbar. Ich freue mich, dass ich leben darf und jeden Tag meine Umgebung und mich selber wahrnehmen darf. Ich will nicht nach dem Motto 'Lebe jeden Tag als wäre es dein letzter' leben. Ich bin dankbar für jede Facette, die mir das Leben bietet. Sei es nun eine gute oder schlechte. Das Leben ist viel zu wertvoll um seine Zeit darauf zu verschwenden, wie man am Optimalsten lebt."
"Wovon haben Sie sich befreit?"
"Ich habe mich befreit, mich über Dinge aufzuregen, die nicht von Belangen sind. Es könnten einem immer noch schlimmere Sachen widerfahren. Seid glücklich über jeden Tag in eurem Leben, freut euch über jede Kleinigkeit, denn das ist den meisten Menschen bedauernswerterweise schon lange verloren gegangen."
Du warst erst 15!!! Jahre alt, als du diese Worte geschrieben hast. Wie spannend es gewesen wäre, deinen weiteren Lebensweg miterleben zu dürfen. Ich bin so froh, dass du einmal selbst am Steuer unseres Autos gesessen hast, dass du zumindest diese Erfahrung noch machen durftest, wo dir doch so viele weitere Erfahrungen verwehrt bleiben werden. Auf dem "Weilandshof" bist du mit dem Touran mehrere Runden um die Scheune gefahren, während ich eingriffbereit und achtsam auf dem Beifahrersitz saß - und hast es verdammt gut hinbekommen und über das ganze Gesicht gelacht. Das war kurz nach Viannes Tod, im Juli 2015, sechs Wochen vor deinem Tod.Wie schön es war, dich auch nach dieser schlimmen Zeit einmal wieder so frei lachen zu hören, nach 'all den schweren Monaten/ Jahren, die du tapfer mitgetragen hast, gefangen zwischen Viannes Krankheit und deiner persönlichen Reifung zum jungen Mann .Du warst erst 12 Jahre alt, fast 13, als bei Vianne der Tumor diagnostiziert wurde. Die folgenden zwei Jahre haben Micha und ich versucht, zwischen den aufwändigen Therapien und der ständigen Sorge um Vianne für dich und Luke und Ada da zu sein. Ich glaube, wir haben es gut gemacht. Und trotzdem haben wir in dieser Zeit auch manches in deinem Leben nicht unmittelbar miterleben können - Zeit, die mir nun mit dir fehlt - wertvolle Zeit, die ich nie wieder haben werde. Und wieder könnte ich schreiend vor den nächsten Baum treten, mit solch einer inbrünstigen Wut in mir, die ein Erdbeben auslösen könnte. Ich habe eine Verpflichtung dir und mir gegenüber: Nein! Eher eine herausfordernde, wunderbare Aufgabe. Für dich werde ich leben, jeden Tag dankbar genießen, Erfahrungen sammeln, die Faszination und Absonderlichkeit dieser Welt ergründen, offen sein für das Leben in mir und um mich herum, Sachen bewegen, die mir/ die uns wichtig erscheinen, mich einsetzen und zurückhalten, staunen, aus ganzer Seele heraus lachen und lieben, voller Demut und Ergriffenheit. Ich hoffe so sehr, dass ich diesem Weg, den ich schon einmal ein paar unsichere Schritte beschritten habe, weiterhin gehen kann und nicht resigniere. Es ist eine Chance... es ist ein Aufbruch. Angst und Zweifel und Resignation bringen mich immer wieder auf dunkle, verschlungene, kraftraubende Pfade - führen, entführen, verführen - wollen mich abhalten von meinem Weg. Sie verschleiern ihn, machen ihn unkenntlich. Manchmal folge ich diesen drei mächtigen Gegenspielern und verirre mich, 'mal bringen sie mich weiter von meinem Weg ab, mal kann ich ihn noch aus den Augenwinkeln erspähen - bisher habe ich ihn aber noch immer wieder gefunden, auch wenn ich erst am Anfang stehe. Es wird Zeit aufzubrechen - auszubrechen aus diesem Käfig aus Schmerz. Für dich! Für mich! Für uns! Bitte hilf mir dabei.
PS:
Ich habe noch eine Bitte an diejenigen von euch, die Jesse gekannt haben: meine Erlebnisse und Erinnerungen an ihn sind begrenzt, dabei gibt es sicherlich noch so viele weitere Geschehnisse und Anekdoten, die ihr mit ihm erlebt habt. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr irgendeine, wenn auch noch so kleine, auf den ersten Blick vielleicht unscheinbar wirkende Erinnerung an ihn hier teilt, und sei es nur, weil es euch vielleicht gut tut. Natürlich immer in Jesses Sinne. Persönlich Anvertrautes ist und bleibt persönlich Anvertrautes. Ihr könnt beispielsweise über die Kommentar-Funktion schreiben. Wenn ihr anonym bleiben wollt - kein Problem.
Ich weiß auch, dass es wichtig ist, irgendwann die Vergangenheit ruhen zu lassen und das Hier und Jetzt zu leben. Das eine soll das andere auch nicht hemmen. Ich erinnere mich nur gerne und möchte nicht vergessen. Ich möchte von Jesse erzählen: deshalb schreibe ich diesen Blog. Überlegt es euch!