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Sonntag, 11. November 2018

Nicht einfach "einfach"

Manchmal stelle ich mir vor, dass du plötzlich wieder vor mir stehst, dass du zurückgekommen bist, dass du in  keine Einbahnstraße abgebogen bist... Du bist einfach wieder da... einfach... Wenn einfach so einfach wäre, denn nichts ist einfach, auch nicht nach drei Jahren. Und doch ist manches einfacher. Mir wird einerseits übel, wenn ich merke, dass der Schmerz wandelbar ist. Manchmal bin ich dermaßen geschockt, dass ich "nüchtern" über dich reden kann, ohne in Tränen auszubrechen. Ich bin geschockt darüber, dass ich auf einmal an der Kreuzung, an der du gestanden hast, vorbeifahren kann, ohne trübsinnig zu werden. Ich nehme die Stelle wahr, doch nachdem ich sie x Mal passiert habe, sind nicht mehr so viele Tränen übrig. Die Abstände, in denen mich die Tränen überschwemmen, werden größer. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wir gewöhnen uns irgendwann an neue Lebensbedingungen - das sichert unser Überleben. Oder wir gehen unter. Dazwischen gibt es nicht allzu viel. Wir gewöhnen uns einfach an ein Leben ohne dich. So schrecklich dass für mich auch klingt. Aber ich wäre eine Lügnerin, wenn ich nicht sagen würde, dass es so ist. Wieder ein "einfach". Einfach so. Für mich ist es kein einfaches "einfach". Fakt ist: Es ist einfach da, dieses Gewöhnen, dass einerseits wohltuend ist, mich andererseits aber anfrisst. Der Schmerz soll nicht nachlassen. Meine Liebe zu dir lässt doch auch nicht nach. Wie kann das zusammenpassen? Mein Verstand weiß, dass alles seine Richtigkeit hat, dass ich weder die Macht der Gewohnheit noch meine Gefühlswelt anzweifeln darf. Dass mir diese Gemütsruhe zusteht und ich sie genießen soll. Dass es keinen noch so kleinen Zweifel geben darf, dass das "Weiter-Leben" mit all seinen neuen Eindrücken und seiner Bandbreite seine Berechtigung hat und mich durchatmen und zur Ruhe kommen lässt, weil es eben auch den Schmerz lindert. Und dann sehe ich dich plötzlich vor mir in meiner realen Welt und merke, wie ich ins Schleudern gerate, wie meine Hirnströme in Nanosekunden Purzelbäume schlagen, die Synapsen überlasten und kurz vorm Kurzschluss stehen, weil ich dir gar nicht so schnell und lückenlos all das erzählen, begreif-  und erlebbar machen kann, was die letzten drei Jahre in meiner Welt auf dieser Erde ohne dich alles passiert ist. Wie soll ich dir ohne schlechtes Gewissen erklären, dass Luke einfach weiter gewachsen ist? Wie dir Nahe bringen, dass Ada schon nächstes Jahr auf die weiterführende Schule wechselt und du sie nicht auf ihrem Weg begleiten durftest. Wie soll ich es auch nur annährend vor dir rechtfertigen, dass das Leben ohne dich trotzdem abläuft. Wie kann das sein, wo du doch ebenso wie die übrigen Familienmitglieder zu meinem Lebensmittelpunkt gehörst. Nach deinem Kenntnisstand ist Ada eben erst eingeschult werden. Es macht mich irre, wie viel sich zwischenzeitlich verändert und ereignet hat. OHNE dass DU teilhaben konntest, ohne dass du traurige und lustig-belebende, spannende Momente hautnah spüren konntest. Du kannst nicht Adas glänzende Augen beim Volleyballspielen sehen.... Du weißt nicht, dass ich seit rund drei Jahren am Protonentherapiezentrum tätig bin, weißt nicht, dass Fynn Medizin studiert und Kai sein Abi in der Tasche hat. Du durftest nie Saskias und Hagens süße kleine Tochter kennenlernen... Es ist so viel Neues passiert. Wo soll ich anfangen, wenn du jetzt vor mir stehen würdest, beraubt an eigenen Erlebnissen. Das Leben reißt uns immer weiter mit sich (und somit von dir) fort... es werden neue Dinge geschehen, die unser Hirn fluten. Ich habe Angst, dass Gedanken (nicht Empfindungen, aber doch Erinnerungen) an dich fortgespült und überlagert werden.
Okay, die Flaute scheint vorbei und Wind zieht auf, während ich ebendiese Worte schreibe... Ich brauche den Wind, obwohl ich weiß, dass anhaltende Unwetter und stürmische Böen auf Dauer Segel und Takellage schwächen und den Rumpf strapazieren. Aber so ein bisschen Wind treibt mich voran.
Wir werden am Mittwoch unseren Touran abgeben und neben der Vorfreude auf das neue Auto zieht sich mir der Magen zusammen. Du bist auf dem Weilandtshof mit dem Touran eigenständig gefahren, während ich leicht grundnervös auf dem Beifahrersitz saß. Du hast auf dem Privatgrundstück ausgetestet, wie es sich anfühlt, selbst hinter dem Steuer zu sitzen und einen PKW zu lenken, Runde um Runde. Ich weiß noch, wie stolz und begeistert du warst, dass es auf Anhieb gut geklappt hat. Ich habe das Gefühl, dass sich die Welt, die ich mit dir verbinde, immer mehr auflöst. Wieviel bleibt noch von dir in ihr übrig? Den Bulli, bei dem du Micha emsig beim Innenausbau mitgeholfen hast und mit dem wir so oft als Familie unterwegs waren, ist schon geraumer Zeit verkauft. Es fällt mir schwer, Dinge oder Gegenstände abzugeben, die mit dir in Erinnerung stehen. Und doch bist du noch ganz viel da: in uns allen, in unseren Gedanken und ganz fest in unseren Herzen. Letztens hat Luke sich dein Leokostüm geschnappt und ist damit durch Hennen gezogen. Eine Freundin hat ihn  gesehen und im ersten Moment gedacht, dass du es bist. Am 18. September, einen Tag nach meinem letzten Blogeintrag und deinem Todestag, haben wir uns wieder mit einigen deiner Freunden an altbekannter Stelle am Seilersee getroffen und gemeinsam auf dich angestoßen, Geschichten erzählt und interessiert gelauscht, welche Wege deine Freunde nach dem Abitur eingeschlagen haben. 
 
Fynn hat uns anvertraut, was aus deinem roten Lieblingspulli geworden ist, den er sich im Andenken an dich aus deinen Sachen ausgesucht hat. Großartig, Jesse! Es hätte dir gefallen...
Von deinem Geburtstag berichte ich beim nächsten Mal.