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Montag, 18. März 2019

Dejà vu

Wieder einmal stehe ich auf der Intensivstation, Geräte piepsen und surren, Monitore zeigen Kurven und Zahlen. Infusionsschläuche und Kabel überall, Schwestern und Pfleger eilen durch den Hauptgang und schwenken rechts und links in die Zimmer ein, Angehörige warten besorgt-geduldig im Vorraum mit Bitte auf Einlass. Es riecht überall nach Desinfektionsmitteln und einem Hauch Urin, es riecht nach Mensch, nicht überdeckt von Parfümdüften und Rasierwasser, sondern unverfälscht nach Mensch in all seiner Geruchsvielfalt. Mein Blick hängt an der Sauerstoffsättigung. Ich muss mich zwingen, nicht ständig auf die Werte zu starren, sondern den Blick auf den vertrauten Menschen vor mir im Bett zu richten, dessen Brustkorb  künstlich von der Beatmungsmaschine aufgepumpt wird, und wieder in sich zusammenfällt - auf und nieder, im elenden gleichbleibenden stoischen Rhythmus. Doch nicht du liegst dort, sondern dein Opa - ebenfalls mit einer schweren Lungenentzündung. Welch Perversion des Schicksals... Ich muss mehrmals blinzeln, um einen klaren Blick zu bekommen, denn im ersten Moment sehe ich dich dort liegen, die Erinnerung vermischt sich mit der Realität, die Bilder switchen hin und her und verweben sich zu einem filigranen Teppich aus Vergangenheit und Gegenwart. Ich muss schlucken, während mich kurzzeitig eine tiefe Verzweiflung überfällt. Es wiederholt sich. Ich muss gut auf mich Acht geben, um keine Re-Traumatisierung auszulösen. Doch nach einiger Zeit kann ich beides gut trennen, denn auch wenn vor mir ein weiterer geliebter Mensch im Sterben liegt, so ist es dieses Mal anders. Auch wenn ich mir noch weitere Lebensjahre mit meinem Papa gewünscht hätte, in denen ich noch so viel von ihm hätte abschauen können, so fällt mir der Abschied zwar nicht leicht, aber etwas leichter, denn dieser Mensch durfte - im Gegensatz zu dir - sein Leben leben - in ganzer Bandbreite. Ich stelle mir gerade vor, wie ihr beide nun wieder zusammen Schach spielen könnt - ein schönes Bild. Erst letztens hat Luke seinen Opa das 1. Mal im Schachspiel geschlagen - und das will schon etwas heißen. 



Die feinen Verästelungen zwischen deinen Geschwistern und dir bestehen weiterhin: Ada folgt im Sommer ans MGI, Luke schnappt sich zwischendurch dein Skateboard (mittlerweile kann ich es zulassen)  und versucht sich an diversen Tricks. Beide, Ada und Luke, fahren im Mai gemeinsam auf Kolping-Pfingstfreizeit. Du warst Lukes Fundament, das so gnadenlos weggebrochen ist. Aber er geht seinen Weg - er ist stark, auch wenn er sich ohne dich irgendwie haltlos fühlt. Ich kann ihn so gut verstehen. Auf meine Frage, was er am meisten an dir vermisst, antwortet er: "Einfach Jesse, alles an ihm!". Einfach dich, Jesse, in deiner ganzen Persönblichkeit! 
Erst vor wenigen Monaten hat mir Johanna das kaputte Kettenglied von dem Mountainbike geschenkt, mit dem du vom Monte Baldo abgefahren bist. Ich hatte es immer im Münzfach meines Portemonnaies bei mir getragen. Mit Schrecken musste ich kürzlich feststellen, dass ich es verloren habe. Scheiße. Es ist nur ein Kettenglied - und doch ist es so viel für mich. Ich könnte mich in den Hintern beißen, denn ich meine noch gehört zu haben, wie irgendetwas beim Öffnen des Münzfaches auf den Boden gefallen ist, ich aber mal wieder in Eile gewesen und davon ausgegangen war, dass es sich lediglich um ein Cent-Stück gehandelt hätte und ich deswegen nur kurz halbherzig auf dem Boden nachgesehen habe. Dieses Abhetzen durchs Leben ist nicht gut und muss aufhören. 
In unserem Alltag bist du noch immer präsent, Jesse. Besonders schön finde ich es, wenn Ada und Luke von dir erzählen. Als wir letztens zusammensaßen, meinte Luke, während er sich Weintrauben in den Mund steckte: "Jesse hat mir 'mal von einem Schulkollegen berichtet, der die Weintrauben immer als Ganzes mit einem Schluck Wasser hinuntergespült hat, weil er sie nicht mochte." Wir mussten bei dieser Vorstellung alle schmunzeln.