Jesse, wir wollten nur allein mit dir nach Berlin: 2014. Es war alles geplant, nur Viannes Rezidiv nicht... Wie verständig und selbstverständlich du es akzeptiert hast, dass wir nicht fahren konnten. Jetzt haben wir die Reise nach Berlin gemacht mit dir und Opa im Herzen. Oh, wie hätte dir diese pulsierende kreaktive Stadt gefallen....so viel Leben abseits der Norm, ein Energieboost, alternativ und schnoddrig gegen lieblich und sympathisch, und dabei eine Metropole mit all ihren düsteren Seiten - und ganz viel grün. Wer hätte das gedacht: Berlin ist grün! Wieland, unser Fahrrad-Guide, hat uns die versteckten Ecken gezeigt - und natürlich die Highlights. Und ein Besuch von Andrés Lieblings-Currywurstbude durfte natürlich auch nicht fehlen. Eigentlich hatten wir nur eine dreieinhalb Stunden Privattour gebucht. Aber irgendwie waren Wieland - ein waschechter Berliner Jung, der im Osten großgeworden ist und mit 20 Jahren den Mauerfall hautnah miterlebt hat - und wir auf einer Wellenlänge, so dass wir locker-flockige siebeneinhalb Stunden mit dem Rad Berlin erFAHREN haben. Danke Wieland! Du konntest Ada und Luke gut erreichen und hast die Dinge auch sozialkritisch beleuchtet. Anschließend haben wir bestens in einem afrikanischen Restaurant gespeist. Wieland hatte Recht: man kann sich in Berlin einmal um die ganze Welt fressen.
Unsere Unterkunft: Gästehaus der Familie Adlon | - Potsdam |
früher |
direkt am Lehnitzsee/ Potsdam |
mitten in Berlin |
Ich weiß, dass dir Berlin gefallen hätte, Jesse. Ich war das letzte Mal Mitte der 80er Jahre zum Deutschen Turnfest dort, zu Zeiten, als Berlin noch eine geteilte Stadt war. In späteren Jahren habe ich immer behauptet, dass mich Berlin absolut überfordern würde und ich im Gegensatz zu so vielen anderen fest davon überzeugt bin, dass Berlin mich nicht packen könnte. Ich dachte immer, ich wäre mehr "München". Deshalb bin ich mit einer gehörigen Portion Respekt im Gepäck Richtung Berlin aufgebrochen. Und was macht Berlin mit mir? Es erstaunt mich, es begeistert mich mit seiner Buntheit und Schäbigkeit, es wirkt wie ein Kunstwerk mit schrecklich verrutschten Pinselstrichen auf mich, das man wegen seiner Andersanrtigkeit und Unverfälschtheit einfach nur lieben muss. Ich bin verliebt... in Berlin... immer in dem Wissen, Jesse, dass du ebenso begeistert gewesen wärest. Lebendig habe ich mich dort gefühlt, mein Großer. In meinen Sehnsuchtsbildern sehe ich uns beide nebeneinander am Spreeufer hocken und heiß debattieren, wobei du mich mit einer gehörigen Portion Ironie überschüttest, die ich so sehr an dir liebe. Ich sehe uns auf einem alten Wehrturm stehen und inbrünstig und sozialkritisch diskutieren, bis die verbalen Fetzen fliegen. In Berlin habe ich mich so wahnsinnig lebendig gefühlt, wie schon lange nicht mehr. Vielleicht weil diese Stadt ebenso schön kaputt ist wie ich und trotzdem handlungs- und beschlussfähig? Kannst du eigentlich annähernd ermessen, wie sehr mir der Austausch mit dir fehlt???? Noch immer muss ich dich und deinen Tod aus meinem Leben verdrängen, um auch nur ansatzweise leben zu können. Ich bin bei dir noch lange nicht so weit. Du bist für mich Feingeist, Revoluzzer, Herz und Chaos in Einem.
Vor einem halben Jahr, bei der Auswahl von Adas weiterführender Schule, habe ich den Infoabend eines Schwerter Gymnasiums besucht. Eine Oberstüfenschülerin stand auf der Bühne und hat gesungen. Ich war wie paralysiert. Sofort hatte ich den 11. September 2015 im Kopf. Du bist nachmittags zur Tennisfahrt aufgebrochen, während ich mit Luke und Ada das MGI-Fest besucht habe: Tao hat gesungen, während du deine letzten Stunden bei Bewusstsein verbracht hast. Danach bist du nie wieder aufgewacht... Inmitten der eifrigen zukünftigen Fünftklässler-Elternschaft rannen mir stille Tränen über mein Gesicht.
Erst heute Morgen, auf der Fahrt Richtung Essen, fühlte sich dein Verlust wieder so unwirklich an - nach vier Jahren! Noch immer erfasst das Herz nicht, was der Geist schon lange weiß. Gestern Abend habe ich dich das erste Mal auf einem Video entdeckt, das ich von Vianne gemacht habe. Ich hatte mir dieses Video zuvor schon etliche Male angeschaut, doch entdecken durfte ich dich erst gestern. Du hast dich im Hintergrund bewegt. Es ist schön, dass du hin und wieder auftauchst, wenn ich mich am Stärksten nach dir sehne und dich am Wenigsten erwarte. Bis bald!