Heute gehen wir es 'mal von der anderen Seite an, Jesse. Wir durften dich fast 16 Jahre lang erleben, durften an deinen Gedanken und Sprüchen, an deinen Skateboard-Tricks und deiner Ironie teilhaben, durften dich fühlen, sehen, riechen (was hinsichtlich deiner Socken eine wahre Herausforderung war)wir durften dir zuhören (und manchmal weghören), dich anmeckern und gemeinsam mit dir lachen und weinen. Was für ein Geschenk du doch bist! Noch immer bin ich absolut fasziniert von dir und voller Liebe für dich. Und ebendiese tiefe Liebe zu dir lässt mich dich so schmerzhaft vermissen. Du bist vor wenigen Tagen wieder gestorben. Das 5. Mal. Wird es leichter? Niemals. An deinem Todestag habe ich mich in meiner Arbeit vergraben, mich zugeschaufelt und kaum einen gedanklichen Atemzug Luft gehabt, den Schmerz zu spüren. Numb! Eine äußerst legale Bewältigungsstrategie in Zeiten der Kurzatmigkeit. Keine Sorge - ich kann wieder Durchatmen. Ada, Luke und Micha haben ebenfalls nichts Besonderes für dich gemacht. Sei ihnen nicht böse. Sie leben. Sie denken an dich. Sie vermissen dich. Und sie hatten in diesem Jahr kein nach außen sichtbares Zeichen für dich. Aber sie lieben dich von Herzen und vermissen dich ebenso wie ich - da kannst du dir so was von sicher sein. Nicht nur der Tag, an dem du deinen letzten künstlich erzeugten Atemzug vor vier Jahren getan hast, ist schlimm: es ist die gesamte Zeit zwischen deinem Sturz und deinem Tod. Mittendrin in diesen herausfordernden Tagen war ich in diesem Jahr in Hamburg mit meinen "Liebesperlen". Es war gut. Es war ablenkend. Und ich war so dermaßen erschöpft - schon im Vorfeld. Die beiden Organisatorinnen hatten sich eine coole Tour ausgedacht. Mit Aufenthalt im Astra-Laden. Astra! Scheiße. Sie konnten schließlich nicht ahnen, dass mir beim Betreten des Lokals die Luft wegblieb. Ich konnte nicht aufhören, zahlreiche Fotos vom Interieur und den Bierpullen zu schießen, damit ich sie dir schenken kann. Jesse - Astra - Lieblingsbier -. Kronkorken - unbeschwerte Partys inmitten deiner Freunde.... Inmitten des Lokals überrannten mich meine Gefühle. Zum Glück gibt es Schoofi. Sie schleifte mich kurzerhand mit aufs Damenklo, wo ich mich geballt heftig ausheulte. Danach war es gut, abgesehen von den hämmernden Kopfschmerzen, die mich die restliche Nacht begleiteten.
Gerade eben habe ich deine erste Deutsch-Klassenarbeit aus der 5. Klasse gemeinsam mit Ada gelesen. Ein Brief. Ada fand es ganz spannend, in deinen alten Arbeiten zu schmökern und sich "Tipps" zu holen, insbesondere da sie deine ehemalige Deutschlehrerin bekommen hat. In deiner 2. Arbeit musstest du eine spannende Geschichte schreiben. Ada hat sie richtiggehend verschlungen. "Mama, was bedeutet 'gellender Schrei'?", fragte sie mich. Ich erklärte es ihr. Sie war beeindruckt. Jesse! Schon damals hattest du einen ausgesprochen ausgeprägten Wortschatz. Wer benutzt bitteschön heute noch dieses treffende Adjektiv? Umso empörter kommentierte sie deine Note - eine 2-, eigentlich recht passabel, wie ich finde. Okay: du hattest "kam" mit "h" geschrieben und noch einige weitere, im Nachgang witzige Rechtschreibfehler eingebaut, aber ansonsten muss ich Ada zustimmen: "Die Geschichte ist klasse!!, ereiferte sich deine kleine Schwester. "Ich hätte ihm dafür eine 1 gegeben", sagte sie mit einer Mischung aus Empörung, Trotz und Bewunderung.
Jesse! Ich will mich nicht im Gestern verlieren. Du würdest mir einen so fetten, vor Ironie triefenden Tritt in den Hintern geben, wenn ich es machen würde (und ups - es passiert leider doch zu oft). Ich liebe das Hier und Jetzt. Pur. Intensiv. Für dich. Ich sauge die Welt auf für dich und für Vianne und will präsent sein für Ada, Luke und Micha. Wir vier machen uns auf den Weg und packen unseren Rucksack. Wir gehen weg, um zurückzukehren. Wir gehen weg, um deine Geschwister, uns, dich und Vianne noch intensiver zu erleben. Wir haben so viele Fragen. Ich glaube, nur die Natur, ihre Gesetze und die Naturvölker können uns innerlich zur Ruhe kommen lassen. Ich habe dir damals auf Sylt in Gedanken versprochen, dass wir die Welt für dich erkunden. Wir sind ganz nah dran: Micha, Luke, Ada und ich nehmen Vianne und dich für mehrere Monate mit nach Thailand und Australien - und zum krönenden Abschluss zum Ski- und Snowboardfahren in die Berge..
Du wolltest nicht nur die Welt bereisen, sondern auch in brisantere Gebiete vordringen (u.a. nach Afghanistan), um dir ein eigenes Bild von der Lage vor Ort zu machen... Unsere Zustimmung dazu hattest du nicht. Auch für die Antifa-Demo, auf die du mit gerade einmal 15 Jahren alleine mit deinen Freunden gehen wollest, warst du uns noch zu jung. Hätten wir geahnt, dass du nie auf eine Demo gehen wirst... ich weiß nicht, wie ich mich entschieden hätte. Das steht jedenfalls auch noch auf meiner "to do" Liste... Warten liegt mir nicht und ist manchmal auch fatal. Deshalb brechen wir genau jetzt auf - wir sind keine Freunde davon, Dinge langfristig zu planen. Die Rahmenbedingungen passen gerade. Die Schule und unsere Arbeitgeber haben zugestimmt. Also hält uns nichts mehr und wir spüren eine erfrischende Abenteuerlust. Nach anfänglicher Skepsis freuen sich Ada und Luke nun auch auf diese Reise: Du weißt ja: "Abenteuer beginnen, wo Pläne enden..." Ich habe keinen Plan wie es weitergehen soll. Ich weiß nur, dass es weitergeht und dass es gut so ist.
PS: Dein Bruder fliegt zur Skifahrt extra für eine Woche zurück. An wen erinnert mich diese Begeisterung für die Skifahrt mit der EF nur...? Fly high! Liebe dich!