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Samstag, 16. Oktober 2021

Glück

Was ist Glück, mein Lieber? Das habe ich schon mehrere, mir persönlich wichtige Menschen in meinem Leben gefragt. Glück ist sicherlich, einen Sohn wie dich in meinem Leben gehabt zu haben… dich, Jesse, noch immer bei mir zu wissen, auch wenn du nicht mehr im physischen Sinne greifbar bist. Ebendieses fehlt mir und macht mich zu einem seelischen Krüppel…



Ich sitze gerade oberhalb des Meeres, schaue auf die blaue See, Wellen und weiße Segler, höre das Meeresrauschen und die Möwen und genieße Wein, Weißbrot, Knoblauch und Tomaten. Das kommt der herkömmlichen Vorstellung von Glück schon ziemlich nahe, und ich weiß diese Gaben der Erde zu schätzen. Wirklich! 



Aber was kann gegen meine Liebe zu dir antreten, mein Großer? Ich weiß das mir Gegebene zu schätzen, das weißt du, sonst wäre ich nicht ich. Dennoch würde ich dies ohne ein Wimpernzucken hergeben für ein Leben mit dir. Ist aber nicht drin. Deshalb versuche ich, für dich mit zu leben und bin heute Morgen ganz früh  in unseren eiskalten Pool gestiegen, weil ich mir irgendwann mal in meinem Kopf gesetzt habe, dich durch mich weiterhin empfinden zu lassen - dazu gehört auch diese berauschende Kühle vor der aufgehenden Sonne. Das hält mich lebendig- und nichts anderes bin ich dir schuldig. 

Übermorgen würdest du 22 Jahre alt, 6 Jahre ohne dich,  fast 16 Jahre mit dir, jede einzelne Sekunde kostbarer als mein eigenes Leben. Happy Birthday, Fly high, sei glücklich, was immer es auch für dich bedeuten mag…I’ll be alright - and don‘t look behind with regret - ich arbeite daran. Follow me… 






Freitag, 10. September 2021

Auf der Suche nach Schokolade...


 Nach einer kräftezehrenden, arbeitsreichen Woche arbeite ich heute im homeoffice. Eigentlich habe ich nur nach einem Stück Schoki in Michas Arbeitszimmer gesucht, da er dort immer einen Geheimvorrat anlegt, um sich ein paar Leckereien zu sichern. Denn sobald etwas Süßes in der Küchenschublade lagert, fallen gleich mehrere gefräßige Zuckermonster (mich eingeschlossen) darüber her und lassen keinen Krümel übrig. Ich hätte es besser wissen sollen. Auf der Suche nach der Schoki öffnete ich den Schrank, in dem wir Jesses Sachen aufbewahren. Ich dachte, ich wäre safe. Ich dachte, ich könnte es mittlerweile kontrollieren. Pustekuchen. Schreiend und heulend hockte ich zusammengesunken vor dem Schrank, ließ meine Finger über einen selbstbedruckten Jutebeutel von Jesse gleiten, blätterte durch seine Klassenarbeit aus der 8. Klasse .... Der Schmerz schwappte wie eine riesige Flutwelle hinüber, zu lange herrschte emotional kontrollierte Ebbe. Was für ein Irrglaube, solch eine Naturgewalt wie die Gefühls-Gezeiten aufhalten zu können. Die Vorboten habe ich nicht beachtet: ein flüchtiger Gedanke, dass bald wieder Jesses Unfall- und Todestag bevorstehen. Ein kleiner Stich ins Herz, nachdem Fynn und Theresa bei uns waren (nicht falsch verstehen, ich genieße es, Jesses Freunde um mich zu haben und sie ein Stück weit begleiten zu dürfen - aber es tut auch weh, weil Jesse nicht mitgehen darf), dann die Sehnsucht auf der letzten Bergtour, noch vor Sonnenaufgang auf den Hochgrat zu steigen, um Jesse und Vianne in aller Abgeschiedenheit nah sein zu können... Alles kleine, erst im Rückblick sichtbare Anzeichen, dass etwas Größeres anrollt. 

Es gibt nicht mehr nur noch reine Freude - das weiß ich. Zu vieles Schöne führt mir zeitgleich schmerzlich vor Augen,  was ich verloren habe. Ich glaube, dass muss ich näher erklären. 

Ada ist mit ihrer Freundin in der Stadt shoppen und kommt mir später in der Fußgängerzone mit einem bubble tea entgegen, von dem sie mir begeistert erzählt. Das letzte Mal, dass ein bubble tea Thema ist, liegt 10 Jahre zurück. Jesse liegt gerade, ebenfalls 12 Jahre alt, wegen einer Borrelieninfektkion zur Antibiose im Krankenhaus und wünscht sich solch einen Tee, den ich ihm mitbringe. 

Ada hat in der siebten Klasse Latein gewählt - sofort muss ich an Jesses ganze Latein-Eskapaden denken. 

Luke trifft sich zum skaten mit Leuten am Seilersee, bestellt sich Schraubwerkzeug, ein neues deck, Kugellager, lässt sich im coolen Skaterladen in Hamburg ausgiebig beraten - es ist wie ein déja-vu.

Ich gehe auf Lukes Stufenpflegschaftssitzungen - und werde immer wieder in Jesses Oberstufe katapultiert. Ich habe eine irrationale Angst davor, dass ich nicht zu seinem Abiball gehen kann. Meinen eigenen habe ich damals in meiner Revolutzer-Phase gemieden und bin kurzerhand nach Kuba geflogen. Jesse ist gestorben, bevor er sein Abi machen konnte... es fühlt sich wie ein Fluch an.

Wir sind in diesem Sommer auf Korsika - wunderbar... Hier hat Jesse schwimmen gelernt.

Luke hat seinen Führerschein in der Tasche - fantastisch. Ich freue mich wahnsinnig für ihn und erinnere mich zeitgleich wehmütig an das Gespräch mit Jesse kurz vor seinem 16. Geburtstag, indem er mir mitteilt, in einem halben Jahr endlich mit der Fahrschule starten zu können. 

Morgen ist der 11. September. Morgen fälltst du wieder, Jesse. "What if we rewrite the stars?... All I want is to fly with you, all I want is to fall with you..." 







Donnerstag, 11. März 2021

Durchhalten

 "Aber wir sind schrecklich stolz auf dich."
"Und warum?"
"Einfach fürs Durchhalten. Manchmal, mein Mädchen, ist das alleine schon eine Heldentat." 
 (Zitat aus einem Buch, das ich gelesen habe und an dessen Titel ich mich nicht mehr erinnern kann. Wie schändlich. Der Verfasser dieser Zeilen möge mir verzeihen)

Meine Gedanken flitzen nur so durch meinen Kopf, und dennoch kann ich momentan keinen noch so kleinen Gedankenfetzen vernünftig festhalten, jeder einzelne entgleitet mir schnell wieder und lässt sich auch nicht mehr neu denken. Was ist bloß los mit mir? Ich habe Angst, dass meine Worte nicht mehr fließen können, dass ich äußerlich verstummt bin, obwohl innerlich alles in Bewegung ist. 
Wie so oft habe ich ein schlechtes Gewissen dir gegenüber, mein Großer. Für Vianne gibt es nicht nur einen, sondern gleich zwei Blogs, zudem etliche Lesungen und Veröffentlichungen. In ihrem Name gebe ich fast alles in meiner beruflichen Tätigkeit, bin an Studien beteiligt, halte Vorträge, organisiere Spendenaktionen, helfe Kindern, angstfrei durch die Protonentherapie zu kommen, versuche, Eltern Halt zu geben und bin mit Herz und Verstand unaufhaltsam bei der Sache. Und für dich? Was tue ich für dich? Ich fühle mich elendig. Es fällt mir auch im sechsten Jahr nach deinem Tod schwer, dich zu erwähnen. Nein, nicht dich! Deinen Tod. Weil ich immer denke, dass die Mitmenschen mich dann für absolut gestört halten, wenn sie erfahren, dass ich zwei Kinder in noch nicht einmal zwei Monaten verloren habe. Dass ich dich überhaupt verlieren konnte. Und das hinterlässt in mir ein Gefühl des absoluten Versagens. 
Luke ist nun älter als du - in wenigen Wochen wird er bereits 17 Jahre alt und nimmt uns mit in die Welt der jungen Erwachsenen, die wir mit dir nicht erleben durften: baldiger Führerschein, anstehendes Abi, Bewerbungen, Freundin... Es ist spannend. Es ist neu. Wie gerne hätte ich dich auf diesem Weg begleitet und hätte jetzt etwas Erfahrung, um Luke zur Seite zu stehen. Du fehlst wahnsinnig. Meine Gedanken an dich ersetzen niemals eine Berührung mit dir. Ich möchte dich halten und in den Arm nehmen, mich mit dir austauschen. Du warst meine Inspiration. Du bist so tief und wärmend in meinem Herzen und meinen Gedanken verankert. Das ist alles, was ich habe. Erst gestern bin ich mit Eira (unserem Aussie-Energiebündel) eine große Hunderunde um den See am Bahnwald gegangen. Alles zog mich zu der verfallenen Mauer, an der du deine Bilder hinterlassen hast. Sie sind noch immer da, zwar verblasst, aber sie sind noch da. Die Tränen kamen schnell und heftig, während Eira tapfer Stellung hielt, sich anschmiegte und etwas von dem Schmerz abfederte - ein großartiger Hund, du hättest sie geliebt. 
 
Vor einigen Monaten hat uns Fynn besucht - es ist immer absoulut erfrischend zu erleben, wie sich deine engen Freunde weiterentwickeln. Sie helfen mir, entfernt mitzuerleben, wie du dich weiterentwickelt hättest, geben mir eine Vorstellung davon, wie es wäre, wenn du noch unter uns wärst. 
In der Vorweihnachtszeit haben wir wieder unseren Familien-Adventskalender gefüllt. Micha hatte eine Lichterkette für dich, Ada eine Zeichnung und ich - ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich für dich parat gehalten habe - und genau das meine ich mit meinem Gedankenchaos. Es tut mir in der Seele weh. Wie kann ich nur so etwas vergessen? Über Lukes Geschenk an dich mussten wir alle schmunzeln: ein Schwimmbadschlüssel, den du einmal hast mitgehen lassen und später feierlich an Luke überreicht hast. Sozusagen eine kleine Trophäen-Weitergabe, sicherlich "gegen das System" (haha). Nun liegt er wieder bei dir, auf deinem Grab. Auch dort war ich lange nicht mehr. Ich suche dich, aber finde dich nicht. Wahrscheinlich, weil ich nicht genau  hinschaue, weil mit Blick verklärt ist von Dingen, die eigentlich keiner oder nur geringfügiger Aufmerksamkeit bedürfen. 
Erst letztens habe ich wieder den hervorragenden Film "Verborgene Schönheit" geschaut. Ein Satz triggert mich: "Nichts ist im Grunde wirklich tot, wenn man genau hinsieht."
Ich schwappe über voller Liebe zu dir. Und das bedeutet, dass meine Sehnsucht unstillbar ist. Aber mache dir bitte keine Sorgen. Ich komme damit klar. 
Du bist weiterhin bei uns. Im Kleinen. Lukes Freundin Matilda belegt ebenso wie du den SoWi-Leistungskurs. Sie hat sich deine erste Klausur in der Q1 als Übungsmaterial genommen - und hat eine tolle Note erzielt. Du bist einfach großartig - auch weit über deinen Tod hinaus. Ada träumt von dir. Ich gehe an dieser Stelle nicht ins Detail, um Adas Privatsphäre zu schützen. Aber es beruhigt mich, deshalb erwähne ich es an dieser Stelle. 
Weißt du, woran ich merke, dass mich dein Verlust noch immer überfordert? Seit Jahren kriegen wir vom Jugendherbergsverband die Mitgliedsausweise zugeschickt. Auch auf deinen Namen. Ich schaffe es nicht, eine Email zu schreiben, dass wir keinen neuen Ausweis für dich benötigen,weil du gestorben bist. Ich schaffe es nicht. Egal, welche Copingstrategien ich entwickle: letztendlich möchte ich dich einfach nur in meinen Armen halten dürfen - dich körperlich spüren. Verdammt. 
Alica, Fynn, Theresa, Tao, Noah, Jolie, Marvin, Tom, Kai, Jill ...: lebt intensiv, probiert euch aus, scheitert, wachst, seid neugierig und verrückt, aber lebt. Es lohnt sich. Für euch, für Jesse. Ihr habt alle einen Platz in unseren Herzen.


Donnerstag, 7. Januar 2021

In Kürze...

 Hi Großer, 

ich habe dich nicht vergessen - melde mich bald wieder bei dir. Vorab ein frohes neues Jahr, wo immer, wann immer und was immer du auch bist. In Kürze kommt mehr. Versprochen! Fly high