"Aber wir sind schrecklich stolz auf dich."
"Und warum?"
"Einfach fürs Durchhalten. Manchmal, mein Mädchen, ist das alleine schon eine Heldentat."
(Zitat aus einem Buch, das ich gelesen habe und an dessen Titel ich mich nicht mehr erinnern kann. Wie schändlich. Der Verfasser dieser Zeilen möge mir verzeihen)
Meine Gedanken flitzen nur so durch meinen Kopf, und dennoch kann ich momentan keinen noch so kleinen Gedankenfetzen vernünftig festhalten, jeder einzelne entgleitet mir schnell wieder und lässt sich auch nicht mehr neu denken. Was ist bloß los mit mir? Ich habe Angst, dass meine Worte nicht mehr fließen können, dass ich äußerlich verstummt bin, obwohl innerlich alles in Bewegung ist.
Wie so oft habe ich ein schlechtes Gewissen dir gegenüber, mein Großer. Für Vianne gibt es nicht nur einen, sondern gleich zwei Blogs, zudem etliche Lesungen und Veröffentlichungen. In ihrem Name gebe ich fast alles in meiner beruflichen Tätigkeit, bin an Studien beteiligt, halte Vorträge, organisiere Spendenaktionen, helfe Kindern, angstfrei durch die Protonentherapie zu kommen, versuche, Eltern Halt zu geben und bin mit Herz und Verstand unaufhaltsam bei der Sache. Und für dich? Was tue ich für dich? Ich fühle mich elendig. Es fällt mir auch im sechsten Jahr nach deinem Tod schwer, dich zu erwähnen. Nein, nicht dich! Deinen Tod. Weil ich immer denke, dass die Mitmenschen mich dann für absolut gestört halten, wenn sie erfahren, dass ich zwei Kinder in noch nicht einmal zwei Monaten verloren habe. Dass ich dich überhaupt verlieren konnte. Und das hinterlässt in mir ein Gefühl des absoluten Versagens.
Luke ist nun älter als du - in wenigen Wochen wird er bereits 17 Jahre alt und nimmt uns mit in die Welt der jungen Erwachsenen, die wir mit dir nicht erleben durften: baldiger Führerschein, anstehendes Abi, Bewerbungen, Freundin... Es ist spannend. Es ist neu. Wie gerne hätte ich dich auf diesem Weg begleitet und hätte jetzt etwas Erfahrung, um Luke zur Seite zu stehen. Du fehlst wahnsinnig. Meine Gedanken an dich ersetzen niemals eine Berührung mit dir. Ich möchte dich halten und in den Arm nehmen, mich mit dir austauschen. Du warst meine Inspiration. Du bist so tief und wärmend in meinem Herzen und meinen Gedanken verankert. Das ist alles, was ich habe. Erst gestern bin ich mit Eira (unserem Aussie-Energiebündel) eine große Hunderunde um den See am Bahnwald gegangen. Alles zog mich zu der verfallenen Mauer, an der du deine Bilder hinterlassen hast. Sie sind noch immer da, zwar verblasst, aber sie sind noch da. Die Tränen kamen schnell und heftig, während Eira tapfer Stellung hielt, sich anschmiegte und etwas von dem Schmerz abfederte - ein großartiger Hund, du hättest sie geliebt.

Vor einigen Monaten hat uns Fynn besucht - es ist immer absoulut erfrischend zu erleben, wie sich deine engen Freunde weiterentwickeln. Sie helfen mir, entfernt mitzuerleben, wie du dich weiterentwickelt hättest, geben mir eine Vorstellung davon, wie es wäre, wenn du noch unter uns wärst.
In der Vorweihnachtszeit haben wir wieder unseren Familien-Adventskalender gefüllt. Micha hatte eine Lichterkette für dich, Ada eine Zeichnung und ich - ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich für dich parat gehalten habe - und genau das meine ich mit meinem Gedankenchaos. Es tut mir in der Seele weh. Wie kann ich nur so etwas vergessen? Über Lukes Geschenk an dich mussten wir alle schmunzeln: ein Schwimmbadschlüssel, den du einmal hast mitgehen lassen und später feierlich an Luke überreicht hast. Sozusagen eine kleine Trophäen-Weitergabe, sicherlich "gegen das System" (haha). Nun liegt er wieder bei dir, auf deinem Grab. Auch dort war ich lange nicht mehr. Ich suche dich, aber finde dich nicht. Wahrscheinlich, weil ich nicht genau hinschaue, weil mit Blick verklärt ist von Dingen, die eigentlich keiner oder nur geringfügiger Aufmerksamkeit bedürfen.
Erst letztens habe ich wieder den hervorragenden Film "Verborgene Schönheit" geschaut. Ein Satz triggert mich: "Nichts ist im Grunde wirklich tot, wenn man genau hinsieht."
Ich schwappe über voller Liebe zu dir. Und das bedeutet, dass meine Sehnsucht unstillbar ist. Aber mache dir bitte keine Sorgen. Ich komme damit klar.
Du bist weiterhin bei uns. Im Kleinen. Lukes Freundin Matilda belegt ebenso wie du den SoWi-Leistungskurs. Sie hat sich deine erste Klausur in der Q1 als Übungsmaterial genommen - und hat eine tolle Note erzielt. Du bist einfach großartig - auch weit über deinen Tod hinaus. Ada träumt von dir. Ich gehe an dieser Stelle nicht ins Detail, um Adas Privatsphäre zu schützen. Aber es beruhigt mich, deshalb erwähne ich es an dieser Stelle.
Weißt du, woran ich merke, dass mich dein Verlust noch immer überfordert? Seit Jahren kriegen wir vom Jugendherbergsverband die Mitgliedsausweise zugeschickt. Auch auf deinen Namen. Ich schaffe es nicht, eine Email zu schreiben, dass wir keinen neuen Ausweis für dich benötigen,weil du gestorben bist. Ich schaffe es nicht. Egal, welche Copingstrategien ich entwickle: letztendlich möchte ich dich einfach nur in meinen Armen halten dürfen - dich körperlich spüren. Verdammt.
Alica, Fynn, Theresa, Tao, Noah, Jolie, Marvin, Tom, Kai, Jill ...: lebt intensiv, probiert euch aus, scheitert, wachst, seid neugierig und verrückt, aber lebt. Es lohnt sich. Für euch, für Jesse. Ihr habt alle einen Platz in unseren Herzen.