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Freitag, 10. September 2021

Auf der Suche nach Schokolade...


 Nach einer kräftezehrenden, arbeitsreichen Woche arbeite ich heute im homeoffice. Eigentlich habe ich nur nach einem Stück Schoki in Michas Arbeitszimmer gesucht, da er dort immer einen Geheimvorrat anlegt, um sich ein paar Leckereien zu sichern. Denn sobald etwas Süßes in der Küchenschublade lagert, fallen gleich mehrere gefräßige Zuckermonster (mich eingeschlossen) darüber her und lassen keinen Krümel übrig. Ich hätte es besser wissen sollen. Auf der Suche nach der Schoki öffnete ich den Schrank, in dem wir Jesses Sachen aufbewahren. Ich dachte, ich wäre safe. Ich dachte, ich könnte es mittlerweile kontrollieren. Pustekuchen. Schreiend und heulend hockte ich zusammengesunken vor dem Schrank, ließ meine Finger über einen selbstbedruckten Jutebeutel von Jesse gleiten, blätterte durch seine Klassenarbeit aus der 8. Klasse .... Der Schmerz schwappte wie eine riesige Flutwelle hinüber, zu lange herrschte emotional kontrollierte Ebbe. Was für ein Irrglaube, solch eine Naturgewalt wie die Gefühls-Gezeiten aufhalten zu können. Die Vorboten habe ich nicht beachtet: ein flüchtiger Gedanke, dass bald wieder Jesses Unfall- und Todestag bevorstehen. Ein kleiner Stich ins Herz, nachdem Fynn und Theresa bei uns waren (nicht falsch verstehen, ich genieße es, Jesses Freunde um mich zu haben und sie ein Stück weit begleiten zu dürfen - aber es tut auch weh, weil Jesse nicht mitgehen darf), dann die Sehnsucht auf der letzten Bergtour, noch vor Sonnenaufgang auf den Hochgrat zu steigen, um Jesse und Vianne in aller Abgeschiedenheit nah sein zu können... Alles kleine, erst im Rückblick sichtbare Anzeichen, dass etwas Größeres anrollt. 

Es gibt nicht mehr nur noch reine Freude - das weiß ich. Zu vieles Schöne führt mir zeitgleich schmerzlich vor Augen,  was ich verloren habe. Ich glaube, dass muss ich näher erklären. 

Ada ist mit ihrer Freundin in der Stadt shoppen und kommt mir später in der Fußgängerzone mit einem bubble tea entgegen, von dem sie mir begeistert erzählt. Das letzte Mal, dass ein bubble tea Thema ist, liegt 10 Jahre zurück. Jesse liegt gerade, ebenfalls 12 Jahre alt, wegen einer Borrelieninfektkion zur Antibiose im Krankenhaus und wünscht sich solch einen Tee, den ich ihm mitbringe. 

Ada hat in der siebten Klasse Latein gewählt - sofort muss ich an Jesses ganze Latein-Eskapaden denken. 

Luke trifft sich zum skaten mit Leuten am Seilersee, bestellt sich Schraubwerkzeug, ein neues deck, Kugellager, lässt sich im coolen Skaterladen in Hamburg ausgiebig beraten - es ist wie ein déja-vu.

Ich gehe auf Lukes Stufenpflegschaftssitzungen - und werde immer wieder in Jesses Oberstufe katapultiert. Ich habe eine irrationale Angst davor, dass ich nicht zu seinem Abiball gehen kann. Meinen eigenen habe ich damals in meiner Revolutzer-Phase gemieden und bin kurzerhand nach Kuba geflogen. Jesse ist gestorben, bevor er sein Abi machen konnte... es fühlt sich wie ein Fluch an.

Wir sind in diesem Sommer auf Korsika - wunderbar... Hier hat Jesse schwimmen gelernt.

Luke hat seinen Führerschein in der Tasche - fantastisch. Ich freue mich wahnsinnig für ihn und erinnere mich zeitgleich wehmütig an das Gespräch mit Jesse kurz vor seinem 16. Geburtstag, indem er mir mitteilt, in einem halben Jahr endlich mit der Fahrschule starten zu können. 

Morgen ist der 11. September. Morgen fälltst du wieder, Jesse. "What if we rewrite the stars?... All I want is to fly with you, all I want is to fall with you..."