Ein weiteres Jahr ist vergangen - und ich stecke fest, Jesse. Trauer verläuft nicht linear, auch wenn ich es mir manchmal wünschen würde, weil ich mental eher ein Sprinter als ein Langstreckenläufer bin. Und doch gehen wir sieben Jahre nach deinem Tod anders mit dem heutigen Tag um. Zwar achtsam, voller liebenswerter und sehnsüchtiger Gedanken an dich, aber dennoch unvorbereitet. Keine geplanten Extra-Aktionen, nur ein ehrliches Gespräch mit Luke und Ada, ob sie sich heute etwas Besonderes für sich und dich wünschen oder sich einen konkreten Ablauf vorstellen. Nein. tun sie nicht, lautet ihre einhellige Antwort. Die Frage ist, wie wir die Erinnerung an dich, die Erinnerung an diesen schicksalhaften Tag, an deine nicht ganz vollendeten 16 Lebensjahre leben sollen.Wie wir deinen Todestag leben sollen... Tod und Leben in einem Satz - allein das mutet schon seltsam an. Und doch leben wir, während du tot bist. Ich bin aber noch nicht zufrieden mit der Art, wie ich mein Leben lebe und glaube, dass ich auch deine Ansprüche an mich (und meine eigenen Ansprüche an mich) nicht erfülle, weil ich irgendwie noch nicht wieder wirklich lebendig bin. Das meine ich damit, dass ich feststecke.
Es hat sich eine gewisse Normalität eingestellt, mit deinem Tod zu leben. Einerseits ist das sicherlich eine natürliche und auch gesunde Entwicklung. Andererseits bin ich fassungslos und spüre mein schlechtes Gewissen, dass wir den heutigen Tag nicht ritualisieren. Dass wir nichts Besonderes geplant haben. Aber es erscheint mir so sinnlos, noch einen weiteren Stein zu bemalen, etwas vom Fluss davontragen zu lassen oder noch etwas auf dein Grab zu legen. Das ist kein Fatalismus, eher Pragmatismus oder Realismus.
Ja, es ist mir ein Bedürfnis, hier zu schreiben. Ansonsten verläuft der Tag bisher größtenteils unspektakulär. Micha ist gereizter und in sich gekehrter. Daran sehe ich, dass er dich heute besonders vermisst. Luke geht zum bouldern mit Freunden, geht in die Aktion. Ada übt für die anstehende Mathearbeit und ist herbstlich-kuschelig. Heute Mittag haben Micha und ich einen großen Waldspaziergang mit unserer Hündin Eira gemacht, während dunkle Wolkenbänke, durchbrochen von hellen Sonnenstrahlen, vom Wind über den Himmel getrieben wurden. Der Wind und die Farbwechsel taten mir gut. Allerdings waren wir größtenteils damit beschäftigt dafür zu sorgen, dass Eira nicht in den Wald entsschwindet und Wild und Fährten folgt. Dennoch gab es Raum für Gedanken an dich inmitten der Natur.
Vom ersten Moment an, als du auf diese Welt kamst, habe ich mich im Umgang mit dir sicher gefühlt. Für mich erschien alles so klar und natürlich, gänzlich unkompliziert. Und du hast dich sofort vertrauensvoll an mich geschmiegt. Die Schwestern auf der Geburtsstation konnten es gar nicht glauben, wie schnell wir beide nach deiner Geburt eine Einheit wurden und uns aneinander gewöhnt hatten - nun ja, wir kannten uns ja auch schon zehn Monate... Etliche Male kamen sie in den wenigen Tagen unseres Aufenthaltes in unser Zimmer und fragten, ob sie irgendwie behilflich sein könnten. Schließlich warst du doch unser erstes Kind. Nein, konnten sie nicht - alles war perfekt. Dein gesamtes kurzes Leben hast du mich gleichermaßen inspiriert wie stabilisiert, mein Großer. Diese feine Sensibilität in Verbindung mit diesem regen Geist haben mich täglich fasziniert - und mich natürlich auch das ein oder andere Mal in den Wahnsinn getrieben. Dieser dir eigene Blick auf die Welt mit all ihren Schönheiten und Schrecken, der es dir aber auch nicht immer leicht gemacht hat und dich manchmal mit dir selber hadern ließ, da deine Ansprüche an dich ebenso hoch waren wie an andere.
Wie ich es geliebt habe, wenn du mit deinem Skateboard, Tennisschläger oder Snowboard unter dem Arm um die Ecke gekommen bist. Gerade nach dem Skateboarden nicht immer ganz unbeschadet - mal mit einem tief lila schimmernden Bluterguss, der sich über dein Gesicht ausbreitete oder mit einem geprellten Arm oder Knie, wenn ein neuer Trick (z.B. der Sprung mit dem Skateboard über Kai hinweg 🙈🙉🙊) nicht so wie geplant geklappt hat. Ich kann dein freches, freies Lachen noch immer hören. Ich möchte dir mein freches freies Lachen mal wieder mitgeben, aber dieser dicke Kloß im Hals lässt es so oft in mir ersticken.
Es ist mir eine Ehre, dich in meinem Leben zu wissen, Jesse.
J ede
e inzelne
s ekunde
s o
e cht
mit dir.
...während sich seit deinem Tod nach wie vor vieles noch immer so unecht anfühlt...
PS:
Danke an all diejenigen, die uns und Jesse auch sieben Jahre nach seinem Tod noch mit liebevollen Worten und Gedanken begleiten. Ihr seid der Hammer! Und ich danke euch, dass ihr nach wie vor hoffnungsvoll und kraftvoll an unserer Seite steht. Danke für eure Freundschaft und Verbundenheit, die mit nichts aufzuwiegen sind
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