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Samstag, 30. Dezember 2023

Abi, Afrika, ausgelaugt

Hi Jesse,

Tao war da - auf Lukes Abiball im Juni. Ich konnte es gar nicht glauben, als sie im Foyer zu weit fortgeschrittener Stunde plötzlich vor uns stand. Ihr Cousin?/Freund der Familie? war in Lukes Stufe. Rückblickend betrachtet sollte es einfach so sein, dass Luke beim ersten Versuch durch seine Abiturprüfung gerauscht ist. Selten passt ein Spruch besser. "Krone richten und weiter". Genau das hat dein "kleiner" Bruder gemacht, indem er sich dem Jahr in der Q2 und der Prüfung noch einmal gestellt und letztendlich ganz viel gewonnen hat: an (Allgemeiner Hochschul-)Reife, an Ruby und an Richtung. Ich bin stolz auf ihn, denn das erneute Herangehen war seine eigentliche Reifeprüfung, die ihn für das weitere  Leben fitter und handlungsfähiger gemacht hat. Ich weiß, du wärest ebenso stolz auf ihn wie  ich es bin, Jesse.

Mit dem Abiturzeugnis in der Tasche und einem fettem Grinsen im Gesicht sind wir dann wenige Tage später gemeinsam mit Andi und Ralf nach Südafrika geflogen. Was für eine Reise! Ich bin noch immer berührt, wenn ich an die vielfältigen und ehrfürchtigen Begegnungen mit den Menschen und Tieren in diesem ursprünglichen Land denke. Auch diese Reise sollte sein - schon das Layout dieses Blogs weist darauf hin -  und ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass wir all das Erreichen und Umsetzen können, was tief in unserem Herzen schlummert - sofern es in unserer Macht steht. 

Zwar konnte ich deinen und Viannes Tod nicht verhindern, aber ich kann das Danach gestalten. Nur gelingt es mir aktuell nicht mehr so gut, wie ich es mir vorgenommen habe. Ehrlich gesagt bin ich unglaublich müde, zermürbt, kraft- und sogar etwas hoffnungslos nach über acht Jahren ohne Vianne und dich. Du weißt: ich bin keine Langstreckenläuferin. Der Sprint liegt mir eher. Was kann ich tun?




 Für meine Klienten/Klientinnen habe ich häufig verschiedene Techniken parat, um den Wohlfühltank und erschöpfte Akkus wieder aufzuladen - mir selbst gegenüber bin ich zunehmend ratlos. Zumindest weiß ich, dass ich zu viel um die Ohren habe mit meiner Tätigkeit im WPE, der Therapeutenausbildung und der PSAPOH-Vorstandsarbeit, um mit mir pfleglich umgehen zu können. Nur habe ich mir diese Tätigkeiten ganz allein ausgesucht. Dabei kenne ich meine Waschanleitung gut: 30 Grad Buntwäsche, nicht trocknergeeignet. Blöderweise stelle ich die Temperatur zu oft auf 60 Grad mit anschließendem Schleudergang von 1400 Umdrehungen und Trocknernutzung. Das schadet dem Gewebe wohl langfristig. Es ist mir bewusst und ich weiß das alles. Ich weiß.. Dabei bräuchte ich eigentlich Ruhe, um mich überdenken und evtl. neu ausrichten zu können. Wenn alles gut läuft, werde ich Mitte 2024 meine Therapeutenausbildung beendet und etwas mehr Luft haben. Drück mir die Daumen.

Ich bin sehr dankbar, dass es diese Zeilen an dich und über dich und Vianne gibt. Denn unser Gedächtnis ist etwas Trügerisches. Bewusste Erinnerungen gehen verloren. Erinnerungen verfälschen sich. Das ist neurowissenschaftlich belegt. Unsere Erinnerungen wandeln sich, Neues wird hinzugedichtet und anderes weggelassen oder in einen veränderten Kontext gesetzt. Um so dankbarer bin ich, dass ich so viele Gedanken über euch aufgeschrieben habe. Aber all die Erinnerungen, die sich nicht in Worten oder Bildern manifestiert haben, verblassen nach und nach. Und das ist schwer für mich zu ertragen. Ich weiß, dass es sie noch gibt, in den Geheimschubladen in meinem Gehirn. Nur sind sie eben nicht mehr bewusst abrufbar, und das macht mich traurig. Denn wenn man diesem Gedankengang weiter folgt, heißt es konsequenterweise, dass auch du ein Stück weit verblasst. 

Was jedoch nie verblassen wird, ist dieses überwältigende Gefühl der Liebe und Verbundenheit, das ich dir gegenüber empfinde. "Mein Herz zu deinem Herz. Meine Seele zu deiner Seele." - meine ersten Worte an dich, nachdem du auf diese Welt gekommen bist, mein Großer. 

Fly high!


Samstag, 17. September 2022

Echt und unecht

Ein weiteres Jahr ist vergangen - und ich stecke fest, Jesse. Trauer verläuft nicht linear, auch wenn ich es mir manchmal wünschen würde, weil ich mental eher ein Sprinter als ein Langstreckenläufer bin. Und doch gehen wir sieben Jahre nach deinem Tod anders mit dem heutigen Tag um. Zwar achtsam, voller liebenswerter und sehnsüchtiger Gedanken an dich, aber dennoch unvorbereitet.  Keine geplanten Extra-Aktionen, nur ein ehrliches Gespräch mit Luke und Ada, ob sie sich heute etwas Besonderes für sich und dich wünschen oder sich einen konkreten Ablauf vorstellen. Nein. tun sie nicht, lautet ihre einhellige Antwort. Die Frage ist, wie wir die Erinnerung an dich, die Erinnerung an diesen schicksalhaften Tag, an deine nicht ganz vollendeten 16 Lebensjahre leben sollen.Wie wir deinen Todestag leben sollen... Tod und Leben in einem Satz - allein das mutet schon seltsam an. Und doch leben wir, während du tot bist. Ich bin aber noch nicht zufrieden mit der Art, wie ich mein Leben lebe und glaube, dass ich auch deine Ansprüche an mich (und meine eigenen Ansprüche an mich) nicht erfülle, weil ich irgendwie noch nicht wieder wirklich lebendig bin. Das meine ich damit, dass ich feststecke. 

Es hat sich eine gewisse Normalität eingestellt, mit deinem Tod zu leben. Einerseits ist das sicherlich eine natürliche und auch gesunde Entwicklung. Andererseits bin ich fassungslos und spüre mein schlechtes Gewissen, dass wir den heutigen Tag nicht ritualisieren. Dass wir nichts Besonderes geplant haben. Aber es erscheint mir so sinnlos, noch einen weiteren Stein zu bemalen, etwas vom Fluss davontragen zu lassen oder noch etwas auf dein Grab zu legen. Das ist kein Fatalismus, eher Pragmatismus oder Realismus. 


Ja, es ist mir ein Bedürfnis, hier zu schreiben. Ansonsten verläuft der Tag bisher größtenteils unspektakulär. Micha ist gereizter und in sich gekehrter. Daran sehe ich, dass er dich heute besonders vermisst. Luke geht zum bouldern mit Freunden, geht in die Aktion. Ada übt für die anstehende Mathearbeit und ist herbstlich-kuschelig. Heute Mittag haben Micha und ich einen großen Waldspaziergang mit unserer Hündin Eira gemacht, während dunkle Wolkenbänke, durchbrochen von hellen Sonnenstrahlen, vom Wind über den Himmel getrieben wurden. Der Wind und die Farbwechsel taten mir gut. Allerdings waren wir größtenteils damit beschäftigt dafür zu sorgen, dass Eira  nicht in den Wald entsschwindet und Wild und Fährten folgt. Dennoch gab es Raum für Gedanken an dich inmitten der Natur. 

Vom ersten Moment an, als du auf diese Welt kamst, habe ich mich im Umgang mit dir sicher gefühlt. Für mich erschien alles so klar und natürlich, gänzlich unkompliziert. Und du hast dich sofort vertrauensvoll an mich geschmiegt. Die Schwestern auf der Geburtsstation konnten es gar nicht glauben, wie schnell wir beide nach deiner Geburt eine Einheit wurden und uns aneinander gewöhnt hatten - nun ja, wir kannten uns ja auch schon zehn Monate... Etliche Male kamen sie in den wenigen Tagen unseres Aufenthaltes in unser Zimmer und fragten, ob sie irgendwie behilflich sein könnten. Schließlich warst du doch unser erstes Kind. Nein, konnten sie nicht - alles war perfekt. Dein gesamtes kurzes Leben hast du mich gleichermaßen inspiriert wie stabilisiert, mein Großer. Diese feine Sensibilität in Verbindung mit diesem regen Geist haben mich täglich fasziniert - und mich natürlich auch das ein oder andere Mal in den Wahnsinn getrieben. Dieser dir eigene Blick auf die Welt mit all ihren Schönheiten und Schrecken, der es dir aber auch nicht immer leicht gemacht hat und dich manchmal mit dir selber hadern ließ, da deine Ansprüche an dich ebenso hoch waren wie an andere.

Wie ich es geliebt habe, wenn du mit deinem Skateboard, Tennisschläger oder Snowboard unter dem Arm um die Ecke gekommen bist. Gerade nach dem Skateboarden nicht immer ganz unbeschadet - mal mit einem tief lila schimmernden Bluterguss, der sich über dein Gesicht ausbreitete oder mit einem geprellten Arm oder Knie, wenn ein neuer Trick (z.B. der Sprung mit dem Skateboard über Kai hinweg 🙈🙉🙊) nicht so wie geplant geklappt hat. Ich kann dein freches, freies Lachen noch immer hören. Ich möchte dir mein freches freies Lachen mal wieder mitgeben, aber dieser dicke Kloß im Hals lässt es so oft in mir ersticken. 

Es ist mir eine Ehre, dich in meinem Leben zu wissen, Jesse.  

J ede   

e inzelne 

s ekunde 

s o 

e cht

mit dir. 

...während sich seit deinem Tod nach wie vor vieles noch immer so unecht anfühlt...

PS: 

Danke an all diejenigen, die uns und Jesse auch sieben Jahre nach seinem Tod noch mit liebevollen Worten und Gedanken begleiten. Ihr seid der Hammer! Und ich danke euch, dass ihr nach wie vor hoffnungsvoll und kraftvoll an unserer Seite steht. Danke für eure Freundschaft und Verbundenheit, die mit nichts aufzuwiegen sind



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Montag, 13. Juni 2022

Flächenbrand

"Ich gehe auf Lukes Stufenpflegschaftssitzungen - und werde immer wieder in Jesses Oberstufe katapultiert. Ich habe eine irrationale Angst davor, dass ich nicht zu seinem Abiball gehen kann. Meinen eigenen habe ich damals in meiner Revoluzzer-Phase gemieden und bin kurzerhand nach Kuba geflogen. Jesse ist gestorben, bevor er sein Abi machen konnte... es fühlt sich wie ein Fluch an." (Blogeintrag: 10.09.2021 "Auf der Suche nach Schokolade")

Als ob ich in die Zukunft schauen könnte. Die befürchtete Zukunft (ha ha - self fulfilling prophecy, welch Ironie ) ist jetzt Gegenwart und somit Realität - meine Realität. Am liebsten wäre ich wieder in der Vergangenheit... ein Paralleluniversum wäre auch nicht so übel, wenn ich es mir recht überlege...

Wie sehr bräuchte Luke, bräuchten wir jetzt gerade deinen Zuspruch, Jesse. Deine Lerntipps, deinen Ratschlag, schwierige Situationen mutig anzugehen. Deine Gegenwart. Und natürlich deine feine Ironie und deine herrlich-überbordende, eifrige Entrüstung über gewisse Menschen, die einfach keinen guten Job gemacht haben - mich eingeschlossen. Worum geht's hier eigentlich? Um eine Sache - und doch um so viel mehr. Luke ist erst einmal durch seine Abiturprüfung gerasselt. Zwar blöd, aber letztendlich kein Weltuntergang. Weder er noch wir haben damit gerechnet und waren dementsprechend sprachlos, da seine Noten in der gymnasialen Oberstufe bisher sehr sourverän waren. Am morgigen Dienstag hat er im Rahmen der mündlichen Nachprüfungen eine kleine Chance,  doch noch zu bestehen. Sei bei ihm... Es gibt so viele Situationen, schöne wie blöde, an denen ich mir dich an seiner Seite gewünscht hätte/ wünsche.

Es ist nicht nur das Nichtbestehen. Nüchtern betrachtet und gut "brandschutzversichert" gibt es wie gesagt weitaus Schlimmeres. Bei mir geht es tiefer, lässt andere Wunden wieder aufbrechen und nässen, lässt den Gedanken aufkommen, wieder einmal versagt zu haben. Ich habe das Gefühl, dass ein riesiger Flächenbrand in mir wütet. Wann sich all dieses leicht entzündbare Material angesammelt hat, kann ich dir gar nicht so genau sagen. Es war ein schwelender Prozess. Seit der Mitteilung, dass Luke die Prüfung nicht geschafft hat, hat sich alles entzündet. Lediglich ein einziger Funke war vonnöten... Bereits brennend habe ich kurz darauf  noch einen mir äußerst wichtigen Vortrag gehalten. Zu viele Aufgaben, mit denen ich mich überhäuft habe, zu viele sehnsüchtige Gedanken, zu viele Entbehrungen - letztendlich leicht entflammbarer Zunder. Nur eine Frage der Zeit, bis alles lichterloh in mir brennt. Ich glaube nicht, dass außerhalb meines innersten Kreises irgendjemand auch nur ansatzweise die ersten Brandgerüche wahrgenommen hat. Ich funktioniere ja gut und hatte meistens einen kleinen Eimer Wasser bei mir, um ein Aufglimmen zu verhindern. Der Eimer hat sich im Laufe der Jahre jedoch immer weiter geleert und selten ergab sich eine echte Gelegenheit zum Auffüllen. Und jetzt fühlt es sich an, als ob ich das Feuer aktuell nicht mehr löschen kann. Ich möchte nicht nur noch über verbrannte Erde laufen. 

Andererseits hat solch ein Feuer auch etwas Faszinierendes, Ursprüngliches, Verzehrendes, Unkontrollierbares, Hungriges, Kraftvolles und - letztendlich Reinigendes. Vielleicht muss es mich einmal richtig runterbrennen und verzehren, damit es nicht noch einmal zu solch einem Flächenbrand kommt. Und auf verbrannter Erde wächst meistens etwas Frisches, Beständiges und äußerst Lebendiges.

Immer wieder knete ich in meinem Hirn die Frage durch, ob ich einfach nur zu sensibel bin und das wahre Leben eben so aussieht, inklusive der ganzen brandings, ober ob ich persönlich seit Beginn von Viannes Erkrankung in einem extremen Dürregebiet lebe, das einfach häufiger heimgesucht wird. Ich bin es so leid, ewig Feuerwehrfrau zu spielen. So let it burn ;)

Das Gute ist: in meinem jetzigen Zustand hatte ich das erste Mal nach langer Zeit wieder das Gefühl, dich leicht spüren zu können, Jesse.

Samstag, 16. Oktober 2021

Glück

Was ist Glück, mein Lieber? Das habe ich schon mehrere, mir persönlich wichtige Menschen in meinem Leben gefragt. Glück ist sicherlich, einen Sohn wie dich in meinem Leben gehabt zu haben… dich, Jesse, noch immer bei mir zu wissen, auch wenn du nicht mehr im physischen Sinne greifbar bist. Ebendieses fehlt mir und macht mich zu einem seelischen Krüppel…



Ich sitze gerade oberhalb des Meeres, schaue auf die blaue See, Wellen und weiße Segler, höre das Meeresrauschen und die Möwen und genieße Wein, Weißbrot, Knoblauch und Tomaten. Das kommt der herkömmlichen Vorstellung von Glück schon ziemlich nahe, und ich weiß diese Gaben der Erde zu schätzen. Wirklich! 



Aber was kann gegen meine Liebe zu dir antreten, mein Großer? Ich weiß das mir Gegebene zu schätzen, das weißt du, sonst wäre ich nicht ich. Dennoch würde ich dies ohne ein Wimpernzucken hergeben für ein Leben mit dir. Ist aber nicht drin. Deshalb versuche ich, für dich mit zu leben und bin heute Morgen ganz früh  in unseren eiskalten Pool gestiegen, weil ich mir irgendwann mal in meinem Kopf gesetzt habe, dich durch mich weiterhin empfinden zu lassen - dazu gehört auch diese berauschende Kühle vor der aufgehenden Sonne. Das hält mich lebendig- und nichts anderes bin ich dir schuldig. 

Übermorgen würdest du 22 Jahre alt, 6 Jahre ohne dich,  fast 16 Jahre mit dir, jede einzelne Sekunde kostbarer als mein eigenes Leben. Happy Birthday, Fly high, sei glücklich, was immer es auch für dich bedeuten mag…I’ll be alright - and don‘t look behind with regret - ich arbeite daran. Follow me… 






Freitag, 10. September 2021

Auf der Suche nach Schokolade...


 Nach einer kräftezehrenden, arbeitsreichen Woche arbeite ich heute im homeoffice. Eigentlich habe ich nur nach einem Stück Schoki in Michas Arbeitszimmer gesucht, da er dort immer einen Geheimvorrat anlegt, um sich ein paar Leckereien zu sichern. Denn sobald etwas Süßes in der Küchenschublade lagert, fallen gleich mehrere gefräßige Zuckermonster (mich eingeschlossen) darüber her und lassen keinen Krümel übrig. Ich hätte es besser wissen sollen. Auf der Suche nach der Schoki öffnete ich den Schrank, in dem wir Jesses Sachen aufbewahren. Ich dachte, ich wäre safe. Ich dachte, ich könnte es mittlerweile kontrollieren. Pustekuchen. Schreiend und heulend hockte ich zusammengesunken vor dem Schrank, ließ meine Finger über einen selbstbedruckten Jutebeutel von Jesse gleiten, blätterte durch seine Klassenarbeit aus der 8. Klasse .... Der Schmerz schwappte wie eine riesige Flutwelle hinüber, zu lange herrschte emotional kontrollierte Ebbe. Was für ein Irrglaube, solch eine Naturgewalt wie die Gefühls-Gezeiten aufhalten zu können. Die Vorboten habe ich nicht beachtet: ein flüchtiger Gedanke, dass bald wieder Jesses Unfall- und Todestag bevorstehen. Ein kleiner Stich ins Herz, nachdem Fynn und Theresa bei uns waren (nicht falsch verstehen, ich genieße es, Jesses Freunde um mich zu haben und sie ein Stück weit begleiten zu dürfen - aber es tut auch weh, weil Jesse nicht mitgehen darf), dann die Sehnsucht auf der letzten Bergtour, noch vor Sonnenaufgang auf den Hochgrat zu steigen, um Jesse und Vianne in aller Abgeschiedenheit nah sein zu können... Alles kleine, erst im Rückblick sichtbare Anzeichen, dass etwas Größeres anrollt. 

Es gibt nicht mehr nur noch reine Freude - das weiß ich. Zu vieles Schöne führt mir zeitgleich schmerzlich vor Augen,  was ich verloren habe. Ich glaube, dass muss ich näher erklären. 

Ada ist mit ihrer Freundin in der Stadt shoppen und kommt mir später in der Fußgängerzone mit einem bubble tea entgegen, von dem sie mir begeistert erzählt. Das letzte Mal, dass ein bubble tea Thema ist, liegt 10 Jahre zurück. Jesse liegt gerade, ebenfalls 12 Jahre alt, wegen einer Borrelieninfektkion zur Antibiose im Krankenhaus und wünscht sich solch einen Tee, den ich ihm mitbringe. 

Ada hat in der siebten Klasse Latein gewählt - sofort muss ich an Jesses ganze Latein-Eskapaden denken. 

Luke trifft sich zum skaten mit Leuten am Seilersee, bestellt sich Schraubwerkzeug, ein neues deck, Kugellager, lässt sich im coolen Skaterladen in Hamburg ausgiebig beraten - es ist wie ein déja-vu.

Ich gehe auf Lukes Stufenpflegschaftssitzungen - und werde immer wieder in Jesses Oberstufe katapultiert. Ich habe eine irrationale Angst davor, dass ich nicht zu seinem Abiball gehen kann. Meinen eigenen habe ich damals in meiner Revolutzer-Phase gemieden und bin kurzerhand nach Kuba geflogen. Jesse ist gestorben, bevor er sein Abi machen konnte... es fühlt sich wie ein Fluch an.

Wir sind in diesem Sommer auf Korsika - wunderbar... Hier hat Jesse schwimmen gelernt.

Luke hat seinen Führerschein in der Tasche - fantastisch. Ich freue mich wahnsinnig für ihn und erinnere mich zeitgleich wehmütig an das Gespräch mit Jesse kurz vor seinem 16. Geburtstag, indem er mir mitteilt, in einem halben Jahr endlich mit der Fahrschule starten zu können. 

Morgen ist der 11. September. Morgen fälltst du wieder, Jesse. "What if we rewrite the stars?... All I want is to fly with you, all I want is to fall with you..." 







Donnerstag, 11. März 2021

Durchhalten

 "Aber wir sind schrecklich stolz auf dich."
"Und warum?"
"Einfach fürs Durchhalten. Manchmal, mein Mädchen, ist das alleine schon eine Heldentat." 
 (Zitat aus einem Buch, das ich gelesen habe und an dessen Titel ich mich nicht mehr erinnern kann. Wie schändlich. Der Verfasser dieser Zeilen möge mir verzeihen)

Meine Gedanken flitzen nur so durch meinen Kopf, und dennoch kann ich momentan keinen noch so kleinen Gedankenfetzen vernünftig festhalten, jeder einzelne entgleitet mir schnell wieder und lässt sich auch nicht mehr neu denken. Was ist bloß los mit mir? Ich habe Angst, dass meine Worte nicht mehr fließen können, dass ich äußerlich verstummt bin, obwohl innerlich alles in Bewegung ist. 
Wie so oft habe ich ein schlechtes Gewissen dir gegenüber, mein Großer. Für Vianne gibt es nicht nur einen, sondern gleich zwei Blogs, zudem etliche Lesungen und Veröffentlichungen. In ihrem Name gebe ich fast alles in meiner beruflichen Tätigkeit, bin an Studien beteiligt, halte Vorträge, organisiere Spendenaktionen, helfe Kindern, angstfrei durch die Protonentherapie zu kommen, versuche, Eltern Halt zu geben und bin mit Herz und Verstand unaufhaltsam bei der Sache. Und für dich? Was tue ich für dich? Ich fühle mich elendig. Es fällt mir auch im sechsten Jahr nach deinem Tod schwer, dich zu erwähnen. Nein, nicht dich! Deinen Tod. Weil ich immer denke, dass die Mitmenschen mich dann für absolut gestört halten, wenn sie erfahren, dass ich zwei Kinder in noch nicht einmal zwei Monaten verloren habe. Dass ich dich überhaupt verlieren konnte. Und das hinterlässt in mir ein Gefühl des absoluten Versagens. 
Luke ist nun älter als du - in wenigen Wochen wird er bereits 17 Jahre alt und nimmt uns mit in die Welt der jungen Erwachsenen, die wir mit dir nicht erleben durften: baldiger Führerschein, anstehendes Abi, Bewerbungen, Freundin... Es ist spannend. Es ist neu. Wie gerne hätte ich dich auf diesem Weg begleitet und hätte jetzt etwas Erfahrung, um Luke zur Seite zu stehen. Du fehlst wahnsinnig. Meine Gedanken an dich ersetzen niemals eine Berührung mit dir. Ich möchte dich halten und in den Arm nehmen, mich mit dir austauschen. Du warst meine Inspiration. Du bist so tief und wärmend in meinem Herzen und meinen Gedanken verankert. Das ist alles, was ich habe. Erst gestern bin ich mit Eira (unserem Aussie-Energiebündel) eine große Hunderunde um den See am Bahnwald gegangen. Alles zog mich zu der verfallenen Mauer, an der du deine Bilder hinterlassen hast. Sie sind noch immer da, zwar verblasst, aber sie sind noch da. Die Tränen kamen schnell und heftig, während Eira tapfer Stellung hielt, sich anschmiegte und etwas von dem Schmerz abfederte - ein großartiger Hund, du hättest sie geliebt. 
 
Vor einigen Monaten hat uns Fynn besucht - es ist immer absoulut erfrischend zu erleben, wie sich deine engen Freunde weiterentwickeln. Sie helfen mir, entfernt mitzuerleben, wie du dich weiterentwickelt hättest, geben mir eine Vorstellung davon, wie es wäre, wenn du noch unter uns wärst. 
In der Vorweihnachtszeit haben wir wieder unseren Familien-Adventskalender gefüllt. Micha hatte eine Lichterkette für dich, Ada eine Zeichnung und ich - ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich für dich parat gehalten habe - und genau das meine ich mit meinem Gedankenchaos. Es tut mir in der Seele weh. Wie kann ich nur so etwas vergessen? Über Lukes Geschenk an dich mussten wir alle schmunzeln: ein Schwimmbadschlüssel, den du einmal hast mitgehen lassen und später feierlich an Luke überreicht hast. Sozusagen eine kleine Trophäen-Weitergabe, sicherlich "gegen das System" (haha). Nun liegt er wieder bei dir, auf deinem Grab. Auch dort war ich lange nicht mehr. Ich suche dich, aber finde dich nicht. Wahrscheinlich, weil ich nicht genau  hinschaue, weil mit Blick verklärt ist von Dingen, die eigentlich keiner oder nur geringfügiger Aufmerksamkeit bedürfen. 
Erst letztens habe ich wieder den hervorragenden Film "Verborgene Schönheit" geschaut. Ein Satz triggert mich: "Nichts ist im Grunde wirklich tot, wenn man genau hinsieht."
Ich schwappe über voller Liebe zu dir. Und das bedeutet, dass meine Sehnsucht unstillbar ist. Aber mache dir bitte keine Sorgen. Ich komme damit klar. 
Du bist weiterhin bei uns. Im Kleinen. Lukes Freundin Matilda belegt ebenso wie du den SoWi-Leistungskurs. Sie hat sich deine erste Klausur in der Q1 als Übungsmaterial genommen - und hat eine tolle Note erzielt. Du bist einfach großartig - auch weit über deinen Tod hinaus. Ada träumt von dir. Ich gehe an dieser Stelle nicht ins Detail, um Adas Privatsphäre zu schützen. Aber es beruhigt mich, deshalb erwähne ich es an dieser Stelle. 
Weißt du, woran ich merke, dass mich dein Verlust noch immer überfordert? Seit Jahren kriegen wir vom Jugendherbergsverband die Mitgliedsausweise zugeschickt. Auch auf deinen Namen. Ich schaffe es nicht, eine Email zu schreiben, dass wir keinen neuen Ausweis für dich benötigen,weil du gestorben bist. Ich schaffe es nicht. Egal, welche Copingstrategien ich entwickle: letztendlich möchte ich dich einfach nur in meinen Armen halten dürfen - dich körperlich spüren. Verdammt. 
Alica, Fynn, Theresa, Tao, Noah, Jolie, Marvin, Tom, Kai, Jill ...: lebt intensiv, probiert euch aus, scheitert, wachst, seid neugierig und verrückt, aber lebt. Es lohnt sich. Für euch, für Jesse. Ihr habt alle einen Platz in unseren Herzen.


Donnerstag, 7. Januar 2021

In Kürze...

 Hi Großer, 

ich habe dich nicht vergessen - melde mich bald wieder bei dir. Vorab ein frohes neues Jahr, wo immer, wann immer und was immer du auch bist. In Kürze kommt mehr. Versprochen! Fly high