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Montag, 13. Juni 2022

Flächenbrand

"Ich gehe auf Lukes Stufenpflegschaftssitzungen - und werde immer wieder in Jesses Oberstufe katapultiert. Ich habe eine irrationale Angst davor, dass ich nicht zu seinem Abiball gehen kann. Meinen eigenen habe ich damals in meiner Revoluzzer-Phase gemieden und bin kurzerhand nach Kuba geflogen. Jesse ist gestorben, bevor er sein Abi machen konnte... es fühlt sich wie ein Fluch an." (Blogeintrag: 10.09.2021 "Auf der Suche nach Schokolade")

Als ob ich in die Zukunft schauen könnte. Die befürchtete Zukunft (ha ha - self fulfilling prophecy, welch Ironie ) ist jetzt Gegenwart und somit Realität - meine Realität. Am liebsten wäre ich wieder in der Vergangenheit... ein Paralleluniversum wäre auch nicht so übel, wenn ich es mir recht überlege...

Wie sehr bräuchte Luke, bräuchten wir jetzt gerade deinen Zuspruch, Jesse. Deine Lerntipps, deinen Ratschlag, schwierige Situationen mutig anzugehen. Deine Gegenwart. Und natürlich deine feine Ironie und deine herrlich-überbordende, eifrige Entrüstung über gewisse Menschen, die einfach keinen guten Job gemacht haben - mich eingeschlossen. Worum geht's hier eigentlich? Um eine Sache - und doch um so viel mehr. Luke ist erst einmal durch seine Abiturprüfung gerasselt. Zwar blöd, aber letztendlich kein Weltuntergang. Weder er noch wir haben damit gerechnet und waren dementsprechend sprachlos, da seine Noten in der gymnasialen Oberstufe bisher sehr sourverän waren. Am morgigen Dienstag hat er im Rahmen der mündlichen Nachprüfungen eine kleine Chance,  doch noch zu bestehen. Sei bei ihm... Es gibt so viele Situationen, schöne wie blöde, an denen ich mir dich an seiner Seite gewünscht hätte/ wünsche.

Es ist nicht nur das Nichtbestehen. Nüchtern betrachtet und gut "brandschutzversichert" gibt es wie gesagt weitaus Schlimmeres. Bei mir geht es tiefer, lässt andere Wunden wieder aufbrechen und nässen, lässt den Gedanken aufkommen, wieder einmal versagt zu haben. Ich habe das Gefühl, dass ein riesiger Flächenbrand in mir wütet. Wann sich all dieses leicht entzündbare Material angesammelt hat, kann ich dir gar nicht so genau sagen. Es war ein schwelender Prozess. Seit der Mitteilung, dass Luke die Prüfung nicht geschafft hat, hat sich alles entzündet. Lediglich ein einziger Funke war vonnöten... Bereits brennend habe ich kurz darauf  noch einen mir äußerst wichtigen Vortrag gehalten. Zu viele Aufgaben, mit denen ich mich überhäuft habe, zu viele sehnsüchtige Gedanken, zu viele Entbehrungen - letztendlich leicht entflammbarer Zunder. Nur eine Frage der Zeit, bis alles lichterloh in mir brennt. Ich glaube nicht, dass außerhalb meines innersten Kreises irgendjemand auch nur ansatzweise die ersten Brandgerüche wahrgenommen hat. Ich funktioniere ja gut und hatte meistens einen kleinen Eimer Wasser bei mir, um ein Aufglimmen zu verhindern. Der Eimer hat sich im Laufe der Jahre jedoch immer weiter geleert und selten ergab sich eine echte Gelegenheit zum Auffüllen. Und jetzt fühlt es sich an, als ob ich das Feuer aktuell nicht mehr löschen kann. Ich möchte nicht nur noch über verbrannte Erde laufen. 

Andererseits hat solch ein Feuer auch etwas Faszinierendes, Ursprüngliches, Verzehrendes, Unkontrollierbares, Hungriges, Kraftvolles und - letztendlich Reinigendes. Vielleicht muss es mich einmal richtig runterbrennen und verzehren, damit es nicht noch einmal zu solch einem Flächenbrand kommt. Und auf verbrannter Erde wächst meistens etwas Frisches, Beständiges und äußerst Lebendiges.

Immer wieder knete ich in meinem Hirn die Frage durch, ob ich einfach nur zu sensibel bin und das wahre Leben eben so aussieht, inklusive der ganzen brandings, ober ob ich persönlich seit Beginn von Viannes Erkrankung in einem extremen Dürregebiet lebe, das einfach häufiger heimgesucht wird. Ich bin es so leid, ewig Feuerwehrfrau zu spielen. So let it burn ;)

Das Gute ist: in meinem jetzigen Zustand hatte ich das erste Mal nach langer Zeit wieder das Gefühl, dich leicht spüren zu können, Jesse.

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