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Sonntag, 23. Dezember 2018

Seltsame Nachrichten

Über deinen Geburtstag war ich zu Viannes Lesung in Wien - und hatte dir gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil deine kleine Schwester an deinem Geburtstag solch großen Raum einnahm. Immer wieder musste ich mir vor Augen halten, dass du diese Lesung unterstützt hättest, dass du mich förmlich dazu angehalten hättest, sie durchzuziehen. So warst du eben. 
Und dann ist noch am selben Tag etwas sehr Seltsames passiert: Als ich abends nach der Lesung völlig ausgepowert, aber erleichtert und zufrieden in mein Hotelbett sank und kurz die Augen geschlossen hielt, konnte ich dich plötzlich ganz klar sehen - nicht dich als Ganzes, nur deine Augen, ganz nah vor meinen Augen, ernst, ruhig und eindringlich dein Blick - so präsent, so echt, so lebendig. Du warst da. Jegliche Traurigkeit (in Verbindung mit dir) löste sich in Sekundenbruchteilen in Nebelschleier auf. Wie in einen glasklaren See tauchte ich ein in deinen Blick. So frisch und frei habe ich mich seit deinem Tod nicht mehr gefühlt. Bis mein Verstand einsetzte, der das alles nicht erfassen konnte. Verwundert riss ich die Augen auf. Und du warst - weg. Hastig schloss ich sie wieder, weil ich sofort wieder zu dir wollte. Erneut schautest du mich an, mit gleicher Intensität und Eindringlichkeit wie zuvor. Und erneut legte sich diese Ruhe und Leichtigkeit über mich. Ich konnte es nicht fassen, öffnete abermals verwundert meine Augen. Danach warst du verschwunden... . Vor Wut hätte ich am liebsten in die Bettdecke gebissen 
Es hört sich so skuril an, davon zu erzählen. Aber es entspricht meiner Wahrnehmung. Ich habe nicht geschlafen und geträumt. Ich war wach - ganz sicher. Am nächsten Tag musste ich mit Schrecken feststellen, dass mein Portemonnaie geklaut worden war. Nur ein einziger Gedanke schoss mir in diesem Moment durch den Kopf: "Halt die Augen offen, Mama - am besten doppelt." War es das, was du mir am Abend zuvor hast sagen wollen? Ich muss über mich selber schmunzeln, während ich das hier niederschreibe. Hört sich in Worte gefasst ziemlich bekloppt an...

So oft bin ich verzweifelt, weil du nicht mehr da bist. Und doch scheinst du in irgendeiner Form dazusein. Was ist Zufall? Was ist Realität? Was ist Einbildung? Was ist sichtbar? Was unsichtbar? 
Wir waren fest entschlossen, in diesem Winter nicht in den Ski-/Snowboardurlaub zu fahren. Wirklich fest entschlossen. Aus reinen Vernunftgründen (wir waren schließlich schon zweimal in diesem Jahr im Winterurlaub), nicht, weil wir keine Lust dazu hätten. Und doch hat diese erwachsene Entscheidung wehgetan, und gerade in den letzten Tagen juckte es mich so dermaßen unter den Füßen, mir endlich die Bretter oder dein Board unterzuschnallen. Und dann bekomme ich vorgestern eine Nachricht von der kleinen, heimeligen Pension im Stubaital, in der wir vor vielen, vielen Jahren einmal gewohnt haben (scheinbar waren wir noch in deren Email-Verteiler) , dass kurzfristig Zimmer freigeworden sind. Zufall? Lenkung? Bestimmung? Normalerweise ist nix Vernünftiges oder Bezahlbares so kurzfristig verfügbar. Der Zeitraum passt perfekt. Der Ort passt perfekt. Mein Bauch (oder mein Herz?) schrie förmlich - entgegen aller Vernunft: "Tut es! Fahrt in die Berge. Los! Sofort anrufen und buchen!" Gesagt - getan... 
Was für wertvolle Erinnerungen haben wir auf dem Stubaitaler Gletscher an dich und Vianne. Ich weiß, dass du dein Board hoch oben auf dem Berg sehen willst - am liebsten im Tiefschnee, abseits der Pisten.  Ok Jesse - abgemacht (und danke!). Wir nehmen dich und Vianne mit hinauf. Fly high! (und lande mit der Nase im Schnee mit mir 😏😆)


Sonntag, 11. November 2018

Nicht einfach "einfach"

Manchmal stelle ich mir vor, dass du plötzlich wieder vor mir stehst, dass du zurückgekommen bist, dass du in  keine Einbahnstraße abgebogen bist... Du bist einfach wieder da... einfach... Wenn einfach so einfach wäre, denn nichts ist einfach, auch nicht nach drei Jahren. Und doch ist manches einfacher. Mir wird einerseits übel, wenn ich merke, dass der Schmerz wandelbar ist. Manchmal bin ich dermaßen geschockt, dass ich "nüchtern" über dich reden kann, ohne in Tränen auszubrechen. Ich bin geschockt darüber, dass ich auf einmal an der Kreuzung, an der du gestanden hast, vorbeifahren kann, ohne trübsinnig zu werden. Ich nehme die Stelle wahr, doch nachdem ich sie x Mal passiert habe, sind nicht mehr so viele Tränen übrig. Die Abstände, in denen mich die Tränen überschwemmen, werden größer. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wir gewöhnen uns irgendwann an neue Lebensbedingungen - das sichert unser Überleben. Oder wir gehen unter. Dazwischen gibt es nicht allzu viel. Wir gewöhnen uns einfach an ein Leben ohne dich. So schrecklich dass für mich auch klingt. Aber ich wäre eine Lügnerin, wenn ich nicht sagen würde, dass es so ist. Wieder ein "einfach". Einfach so. Für mich ist es kein einfaches "einfach". Fakt ist: Es ist einfach da, dieses Gewöhnen, dass einerseits wohltuend ist, mich andererseits aber anfrisst. Der Schmerz soll nicht nachlassen. Meine Liebe zu dir lässt doch auch nicht nach. Wie kann das zusammenpassen? Mein Verstand weiß, dass alles seine Richtigkeit hat, dass ich weder die Macht der Gewohnheit noch meine Gefühlswelt anzweifeln darf. Dass mir diese Gemütsruhe zusteht und ich sie genießen soll. Dass es keinen noch so kleinen Zweifel geben darf, dass das "Weiter-Leben" mit all seinen neuen Eindrücken und seiner Bandbreite seine Berechtigung hat und mich durchatmen und zur Ruhe kommen lässt, weil es eben auch den Schmerz lindert. Und dann sehe ich dich plötzlich vor mir in meiner realen Welt und merke, wie ich ins Schleudern gerate, wie meine Hirnströme in Nanosekunden Purzelbäume schlagen, die Synapsen überlasten und kurz vorm Kurzschluss stehen, weil ich dir gar nicht so schnell und lückenlos all das erzählen, begreif-  und erlebbar machen kann, was die letzten drei Jahre in meiner Welt auf dieser Erde ohne dich alles passiert ist. Wie soll ich dir ohne schlechtes Gewissen erklären, dass Luke einfach weiter gewachsen ist? Wie dir Nahe bringen, dass Ada schon nächstes Jahr auf die weiterführende Schule wechselt und du sie nicht auf ihrem Weg begleiten durftest. Wie soll ich es auch nur annährend vor dir rechtfertigen, dass das Leben ohne dich trotzdem abläuft. Wie kann das sein, wo du doch ebenso wie die übrigen Familienmitglieder zu meinem Lebensmittelpunkt gehörst. Nach deinem Kenntnisstand ist Ada eben erst eingeschult werden. Es macht mich irre, wie viel sich zwischenzeitlich verändert und ereignet hat. OHNE dass DU teilhaben konntest, ohne dass du traurige und lustig-belebende, spannende Momente hautnah spüren konntest. Du kannst nicht Adas glänzende Augen beim Volleyballspielen sehen.... Du weißt nicht, dass ich seit rund drei Jahren am Protonentherapiezentrum tätig bin, weißt nicht, dass Fynn Medizin studiert und Kai sein Abi in der Tasche hat. Du durftest nie Saskias und Hagens süße kleine Tochter kennenlernen... Es ist so viel Neues passiert. Wo soll ich anfangen, wenn du jetzt vor mir stehen würdest, beraubt an eigenen Erlebnissen. Das Leben reißt uns immer weiter mit sich (und somit von dir) fort... es werden neue Dinge geschehen, die unser Hirn fluten. Ich habe Angst, dass Gedanken (nicht Empfindungen, aber doch Erinnerungen) an dich fortgespült und überlagert werden.
Okay, die Flaute scheint vorbei und Wind zieht auf, während ich ebendiese Worte schreibe... Ich brauche den Wind, obwohl ich weiß, dass anhaltende Unwetter und stürmische Böen auf Dauer Segel und Takellage schwächen und den Rumpf strapazieren. Aber so ein bisschen Wind treibt mich voran.
Wir werden am Mittwoch unseren Touran abgeben und neben der Vorfreude auf das neue Auto zieht sich mir der Magen zusammen. Du bist auf dem Weilandtshof mit dem Touran eigenständig gefahren, während ich leicht grundnervös auf dem Beifahrersitz saß. Du hast auf dem Privatgrundstück ausgetestet, wie es sich anfühlt, selbst hinter dem Steuer zu sitzen und einen PKW zu lenken, Runde um Runde. Ich weiß noch, wie stolz und begeistert du warst, dass es auf Anhieb gut geklappt hat. Ich habe das Gefühl, dass sich die Welt, die ich mit dir verbinde, immer mehr auflöst. Wieviel bleibt noch von dir in ihr übrig? Den Bulli, bei dem du Micha emsig beim Innenausbau mitgeholfen hast und mit dem wir so oft als Familie unterwegs waren, ist schon geraumer Zeit verkauft. Es fällt mir schwer, Dinge oder Gegenstände abzugeben, die mit dir in Erinnerung stehen. Und doch bist du noch ganz viel da: in uns allen, in unseren Gedanken und ganz fest in unseren Herzen. Letztens hat Luke sich dein Leokostüm geschnappt und ist damit durch Hennen gezogen. Eine Freundin hat ihn  gesehen und im ersten Moment gedacht, dass du es bist. Am 18. September, einen Tag nach meinem letzten Blogeintrag und deinem Todestag, haben wir uns wieder mit einigen deiner Freunden an altbekannter Stelle am Seilersee getroffen und gemeinsam auf dich angestoßen, Geschichten erzählt und interessiert gelauscht, welche Wege deine Freunde nach dem Abitur eingeschlagen haben. 
 
Fynn hat uns anvertraut, was aus deinem roten Lieblingspulli geworden ist, den er sich im Andenken an dich aus deinen Sachen ausgesucht hat. Großartig, Jesse! Es hätte dir gefallen...
Von deinem Geburtstag berichte ich beim nächsten Mal.

Montag, 17. September 2018

Wir sehen uns im Pink Flamingo!

Darf ich schreiben, dass mein Herz blutet? Du würdest mich lauthals-lachend wegen dieser Formulierung aufziehen und dich schrecklich lustig machen über mich. 

Und dann, während mir gerade die Tränen über das Gesicht laufen, kommt deine kleine kichernde Schwester vorüber und fordert zappelig "ihre" Harry-Potter-Vorlesegeschichte und stillt für einen Minimoment diese Herzblutung. Und als sie mir dann noch verschmitzt entgegenwirft: "Ich glaube,ich brauche einen Anschnallgurt", weil sie wieder mega-zappelig durchs Bett wuselt, muss ich herzhaft lachen. Du hättest sie daraufhin durchgekitzelt und von mir einen strengen Blick geerntet, weil sie doch eigentlich zur Ruhe kommen soll. Ich vermisse dich. Wir vermissen dich. Wo ist dein Herzschlag....?
Der Tag wollte nicht beginnen. Wirklich. Wecker 1 war auf 5:40 Uhr und Wecker 2 auf 6:10 (last chance) gestellt. Meine innere Uhr hat mich rechtzeitig geweckt, nicht aber dieser Wecker. Er funktionierte nicht. Warum? Weil die Datumsanzeige noch immer auf Sonntag stand. Ich habe keine Erklärung dafür. Das ist noch nie passiert. Dieser neue Tag, dieser schreckliche 17. September, sollte wohl nicht beginnen. Um dich zu erhalten, würde ich immer und immer wieder auf dem 16. stehenbleiben. Sogar der Wecker hat sich geweigert, diesen Tag einzuläuten... Jesse! Wir konnten uns nicht verabschieden. Verdammt. Ich bin noch immer so voller Worte für dich. Wir beide lieben Worte - Wortspiele - Wortabwandlungen. Deine verbale Herausforderung fehlt mir. Wir hätten uns über Sigmund Freud unterhalten können. Mit dir wäre ich am Wochenende in den Hambacher Forst gefahren. "Ob friedlich oder militant, wichtig ist der Widerstand." Ich habe heute auf der Rückfahrt aus Essen Neonschwarz gehört - eine deiner Lieblingsbands. Sehr geile Texte, mein Großer: "Das Herz schlägt links, meine Seele liegt zentral....". Ich kann das so vertreten, weil du der gewaltfreie Gegner gewesen wärest. Ich bin so stolz auf dich, auf deine Persönlichkeit, deinen Geist. 
Es sind die kleinen Gesten, die mich lebendig halten. Johanna hat mir ein ganz persönliches Geschenk gemacht. Wie sehr du ihr Essen und ihre Gastfreundschaft geliebt hast.... Es ist Sommer 2014. Vianne hat ihr verdammtes 1. Scheiß-Rezidiv. Kurz nach der OP fahren wir nach Cuxhaven in die Elternwohnung der Elternini für leukämie- und tumorerkrankte Kinder Dortmund. Du bist 14 Jahre alt und jeder kann nachvollziehen, dass dich Cuxhaven nicht triggert. Und dann bekommst du das Angebot von Johanna und Familie, zusammen mit Kai zum Gardasee zu fahren. Natürlich darfst du. Ihr surft und seid mega aktiv. Mit der Gondel fahrt ihr mit den Bikes auf den Monte Baldo, um wieder abzufahren. Unterwegs reißt deine Kette, aber ihr bekommt auf einer Berghütte Hilfe. 





Und vor wenigen Tagen händigt mir Johanna das herausgenommene  Kettenglied aus... Danke Johanna! Von Herzen. Ich weiß, dass du es berührt hast. Das Kettenglied verbindet uns, Jesse.... ich bin so voller Liebe zu dir. Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich für dich gestorben.  Du bist so wertvoll - für mich, für uns. Du hättest diese Welt verändert. Welch Verschwendung von Geist, Impuls und Lebendigkeit....
Gestern Abend ist dein "Erinnerungsbaum" herabgekracht, den wir auf deiner "Do you remember-Party" erschaffen haben. Einfach so. Ohne Windstoß - was sonst schon mal passiert ist. Ich bin in Tränen ausgebrochen. Etliche bunte Zuckerperlen aus der "Liebesperlen-Flasche" kullerten über den Boden... 

Sie liegen noch immer dort. Ich hatte nicht die Kraft, sie wegzukehren. Was sollte das? Wolltest du mir sagen, dass alles zusammenbricht, wenn ich so weitermache? Wolltest du mich lautstark wachrütteln? Oder hat es gar nichts zu bedeuten und ich bin so verzweifelt, dass ich irgendetwas in erklärbare Dinge interpretiere? Ich brauche Antworten und weiß zugleich, dass ich sie wahrscheinlich niemals bekommen werde...
Auch Carl stirbt heute. Du hast ihn nie kennengelernt. Aber du hättest ihn gemocht. Ich habe ihn am WPE begleitet und seine Mama ist mir eine wertvolle Freundin geworden. Welch seltsame Verknüpfung. Und dann ist da Andi. Am Tag deines Unfalls - ich hatte ihn irgendwie weit von mir gewiesen - erzählt mir meine Schwester abends (sie hat sich an diesem Tag um Ada gekümmert, weil ich lange gearbeitet habe), dass sie beim Kastaniensammeln mit Ada auf einen kleinen Jungen namens Jesse getroffen ist... Jesse, Ada und Andi haben zusammen Kastanien aufgelesen. 
Jesse! Du hast wahnsinnig tiefsinnige und herzensgute Freunde... Du lebst in ihnen weiter. Alisa und Theresa haben uns besucht, Fynn war da, Tao hat sich gemeldet und Jolie hat uns besucht. Es ist so belebend, sie alle zu sehen und ihren Lebensweg etwas begleiten zu dürfen. An euch alle! Wir sind immer für euch da und ihr seid jederzeit herzlich willkommen - ebenso wie Jesse euch jederzeit herzlich willkommen geheißen hätte. 
Erst im Laufe des Tages habe ich Ada und Luke beiseite genommen und ihnen gesagt, dass du heute vor drei Jahren gestorben bist. Es ist für mich noch immer nicht greifbar, nicht fassbar, nicht erfassbar... Die beiden haben sofort reagiert: Ada hat dir ein wunderschönes Bild auf Leinwand gemalt - die Farben hätten dir gefallen. Luke hat dir sein Fahrrad (en miniature) geschenkt - er ist solch ein Dirtbike-Fan und du wärest voller Stolz, ihn über die Hügel fliegen zu sehen... 







 Das ist von mir... für dich... Neonschwarz - Fliegende Fische: "Das Herz schlägt links und meine Seele liegt zentral...."



Letztens kam Luke zu mir und fragte mich, wie teuer ein Skateboard sei und ob er deines einmal ausprobieren dürfe. Ich konnte mich nicht dazu durchringen - Scheiße! Ich will nicht, dass es kaputt geht. Oh nein... er ist dir in vielen Dingen so ähnlich... Als ich ihn kürzlich zum Bus für seinen Spanien-Urlaub gebracht habe, bin ich innerlich so aufgewühlt gewesen. Niemand hat es gemerkt... Als ich dich das letzte Mal verabschiedet habe, bist du nicht wiedergekommen. Er wird nächstes Jahr 15 und ich habe eine Scheiß-Angst... Wir konnten dich nicht schützen... ich hasse diese Machtlosigkeit. Wir werden auch ihn nicht schützen können. Sicherheit ist subjektiv... Wir haben jedwede Wahrscheinlichkeitsrechnung geprengt...
Jesse! Wir sehen uns im Pink Flamingo! Es wird Zeit für eine Erklärung.  Du warst noch klein. Vielleicht in der 3. Klasse der Grundschule. Dein Ziel: Das Gymnasium. Aber du hattest auch einen Plan B. Ganz verschmitzt grinsend hast du uns damals auf den Weg nach Orlando folgendes eröffnet: "Mama, wenn es mit dem Gymnasium nicht klappen sollte, dann werde ich der beste Burger-Brater der Welt. Edel-Burger! Ich mache ganz viele Läden auf und kann jeden Tag Burger futtern und werde verdammt reich und erfolgreich und meine Burger werden die besten auf der ganzen Welt sein. Ich weiß auch schon, wie mein Laden heißen soll: Pink Flamingo!" 




Deine Hinterfragung des Kapitalismus kam erst später😉
Wir sehen uns im Pink Flamingo! Fly high!

Dienstag, 11. September 2018

Vom Abstürzen

In den letzten Tagen und insbesondere heute habe ich mich so sehr in die Arbeit gestürzt, dass mir bis vor wenigen Stunden gar nicht bewusst war, was heute für ein Tag ist. Heute vor drei Jahren habe ich dich das letzte Mal gesprochen. Ich habe mich von dir verabschiedet - es sollte nur ein Abschied für zwei Tage, bis Sonntag werden, nicht für immer. Montags solltest du deine erste Bio-LK-Klausur schreiben. Du warst vorbereitet. Verdammt, ich erinnere mich nicht mehr, was ich genau zu dir gesagt habe. Ich erinnere mich nur noch, dich nicht gedrückt zu haben, als ich dich zum Tennisplatz gebracht habe, um dich nicht in Verlegenheit vor den älteren Jungs zu bringen. Du bist aus dem Auto gestiegen und ich bin nach Hause gefahren. Wir haben uns zuvor zuhause ganz fest in den Arm genommen - zum Glück. Ich will dich heute nicht wieder vor meinem geistigen Auge fallen sehen - mein Unterbewusstsein hat vorgesorgt und mich durch mein hohes Arbeitspensum der letzten Tage so müde werden lassen, so dass ich mich nicht diesen Bildern und Gedanken und Gefühlen hingeben muss. Sogar zum Schreiben bin ich zu müde, Jesse. Ich hole es nach, versprochen. Es gibt so viel, was herausgeschrieben werden will: Deine Besucher der letzten Wochen, unser Frankreichurlaub (wieder ein Urlaub ohne dich, aber mit dir im Herzen), Johannas wunderbares Geschenk, diese seltsamen Überschneidungen deiner Daten mit mir am Herzen liegenden Menschen, die Angst, Luke auf Reisen gehen zu lassen und das bedrückende Gefühl beim Abschied, weil ich jedes Mal eine Scheiß-Angst habe, ihn ziehen zu lassen... weil er vielleicht nicht wiederkommen wird - so wie du... . Ich habe dich in meinem Traum gesehen - und dann ist da Lukes plötzliche Affinität zum Skateboarden ... es wird Zeit, zu schreiben. Aber heute bin ich zu müde. Andi hat mich heute Abend daran erinnert, was heute für ein Tag ist. Sie kam extra noch einmal zurück, um zu erzählen, dass sie HEUTE in Hennen mit einem kleinen Junge namens Jesse Kastanien gesammelt hat.... 
 

Montag, 11. Juni 2018

Zweimal lebenslänglich

Jesse, ich bin so stolz auf Luke und Ada. Trotz der herben Verluste schlagen sich die beiden hervorragend und versuchen, sich mit ihrem neuen Leben, ihren neuen Rollen anzufreunden. Luke ist nun der Älteste, Ada ist nun die Jüngste. Ich muss nicht erst die Fotos betrachten um zu wissen, welch' große Lücke du nicht nur in mein Leben gerissen hast, sondern welch' große Lücke du auch im Leben der beiden hinterlässt. Du hast deinen jüngeren Geschwistern Sicherheit gegeben, hast sie getröstet, hast sie herausgefordert, hast dich schützend zwischen Luke und die Zwillinge gestellt, hast ihr Herz durch innige Umarmungen und kleine versteckte liebevolle Knuffe wachsen lassen, hast deinem Bruder das Streiten und Argumentieren gelehrt (und ihn manchmal zur Weißglut gebracht), sie unterstützt und beschützt, hast sie, wenn du gnädig gestimmt warst, an deiner Welt, an deinen Aktivitäten teilhaben lassen und ihnen einen kleinen Einblick auf die Welt der noch bevorstehenden Möglichkeiten gegeben, hast sie inspiriert und angespornt, warst ihnen (nicht immer und in jeder Hinsicht, aber dennoch oft genug) ein Vorbild, warst Verbündeter und Vertrauter, Ratgeber und Kritiker. Du hast sie oftmals durch deine lustigen Ideen zum Lachen gebracht, sie veräppelt und mit ihnen gescherzt und Luke Ironie gelehrt. Du hast sie inspiriert und ihnen das Gefühl gegeben, wertvoll und einzigartig zu sein. Du hast Zuversicht vermittelt, warst für sie Vorkoster des Lebens und ein wichtiger Türöffner. Du warst so viel für sie... Wie soll ich diese Lücke jemals schließen??? Ich kann es einfach nicht... Niemand kann es. Du warst einfach du!






Und wie liebevoll du dich um Vianne gekümmert hast, wie oft du ihr ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hast oder ein befreiendes Lachen entlocken konntest....

Ein sehr tiefgründiges junges Mädchen, dessen kleiner Bruder letztes Jahr gestorben ist, hat folgende Zeilen kurz nach seinem Tod verfasst: "...Wenn dein Bruder stirbt bekommst du lebenslänglich, ohne jemals etwas verbrochen zu haben, ohne Aussicht auf Begnadigung, ohne Freigang, ohne Hafterleichterung. Lebenslänglich trauern, lebenslänglich unstillbare Sehnsucht, lebenslänglich ein Meer von Tränen, lebenslänglich quälende Fragen nach dem Warum, lebenslänglich unter Unverständnis der Mitmenschen leiden, der Zukunft beraubt. Irgendwann richtest du dich ein in deinem Gefängnis, manchmal fühlst du dich sogar wohl, kannst lachen, dich freuen. Du denkst, du hast dich befreit, doch dann ist da ein Lied, ein Duft, ein Wort, ein Mensch auf der Straße, der deinem Bruder sehr ähnlich sieht und es wird dir wieder klar: Du hast lebenslänglich, ohne jemals etwas verbrochen zu haben."
Luke und Ada haben lebenslänglich bekommen. Zweimal lebenslänglich. Ich glaube nicht, dass einige Menschen, die mit deinen beiden wunderbar starken, tapferen, tiefgründigen Geschwistern zu tun haben, diese Tragweite, dieses Ausmaß wirklich verstanden haben. Und es tut gut zu erleben, dass sich andere wiederum unglaublich feinfühlig in unsere spezielle Familiensituation hineinfühlen können. Einen solchen Menschen durfte ich bei Lukes letztem Elternsprechtag kennenlernen. Sie sprach ihren Respekt gegenüber Luke und unserer Familie aus, trotz der Tatsache, dass Luke bei ihr im Unterricht etwas schwächelt. Eine Lehrerin, die einfach einmal anerkennd zur Sprache gebracht hat, wie gut Luke seinen Weg, trotz gewisser schulischer Schwierigkeiten, bisher gegangen ist... was für ein freundlicher und fröhlich-zufrieden wirkender Mensch er trotz der schlimmen Geschehnisse geblieben sei. Ich war so dankbar für ihre Worte. Diese Lehrerin hatte dich damals ebenfalls in der 8. Klasse in demselben Fach unterrichtet und erzählte mir unter Tränen, wie sehr sie sich konzentrieren müsse, Luke nicht mit deinem Namen anzusprechen. Sie war dabei so menschlich-feinfühlig, ohne ihre eigene Betroffenheit  verbergen zu wollen und zu können, so ehrlich und unverfälscht, dass uns schließlich beiden Tränen des Schmerzes und der Ergriffenheit in die Augen traten. Und doch tat dieses Zusammentreffen gut. Es tat gut zu hören, dass da Lehrer sind, die Luke nicht nur isoliert betrachten, sondern als Ganzes, eingewoben in seine Vergangenheit. 
Doch nicht jeder scheint dazu in der Lage zu sein, denn andere Gespräche an diesem Tag waren eher nüchtern und eindimensional verlaufen und es wurde mir wieder einmal bewusst, wie sehr Schüler auf die reine Schulleistung reduziert betrachtet werden. Es geht mir nicht darum, die Tatsache zu entschuldigen oder beiseite zu wischen, dass die ein oder andere Schulnote nicht so prickelnd ist (andere sind es hingegen). Das muss angesprochen und besprochen werden. Aber es geht mir darum, dass auch der Kern des Menschen betrachtet und die Persönlichkeit des Kindes/ des Jugendlichen in solch einem Gespräch gewürdigt wird. Wie kann man Lukes und Adas unglaubliche Stärke, ihren ungebrochenen Mut, ihre Entschlossenheit, das Leben weiter anzunehmen, ihr wahnsinniges Durchhaltevermögen, die Fähigkeit, sich aus verzweifelten Situationen wieder emporzuarbeiten, diese nach wie vor vorhandene Liebe zum Leben und das Vertrauen in sich selbst (trotz manchmal aufkommender Zweifel) und in sein Umfeld, ihre Reife und Besonnenheit, ihr Begeisterungsfähigkeit, ihre Hilfsbereitschaft nicht sehen und anerkennen? Immer in dem Wissen, dass Ada und Luke zweimal lebenslänglich bekommen haben.... und sich trotz aller Widrigkeiten weiterhin mutig und liebevoll dem Leben entgegenlehnen.
Jesse, du wärest so stolz auf die beiden...Ich bin es!

Samstag, 14. April 2018

Fly high together!

Das wäre ein Ski- und Boarderurlaub nach deinem Geschmack gewesen, mein Großer! Tiefschnee im April, genug Schneehügel am Pistenrand für waghalsige Sprünge, hin und wieder pulvriger Neuschnee, manchmal leere Pisten (Nebel hat auch so seine Vorteile) und wirklich gut angelegte Boarderparcs.

 


Ausgiebige Sonnenbäder im Liegestuhl mit einem leckeren Heiß- oder Kaltgetränk in der Hand, 
 
am liebsten auf unserer "Homebase" (unsere Lieblingshütte und Haupttreffpunkt), 
 



wilde Massen-Schneeballschlachten auf 2000 Meter Höhe (wobei es ein paar Kollateralschäden gab), weiße Puderzuckerberge unter tiefblauem Himmel - so weit das Auge reicht.


 
Die niveaulos-lustige Après-Schirmbar, unser Wohlfühlhotel direkt an der Talstation (einfach halbschlafend aus dem Skikeller rausfallen und ab in die erste Gondel). Und dann erst das ganze leckere Essen: morgens ein reichhaltiges Frühstücksbuffett, mittags hin und wieder kleine Leckereien auf den Hütten (Ada hat `mal wieder in Rekordschnelle den ganzen! Germknödel, ertränkt in gefühlten 2 Liter Vanillesauce, verputzt und Luke hat lediglich einen einzigen Happen von seinem saftig-triefenden Hütten-Burger abgegeben ... Hm, du hättest wahrscheinlich das wirklich gute Wiener Schnitzel, ausreichend für vier, gewählt). Ganz zu Schweigen von dem abendlichen 5-Gänge-Buffet.
Aber das Wichtigste: Einige deiner und unserer engsten Freunde waren mit dabei und ganz viele uns nahestehende, liebenswert-lustige Menschen. Was für eine großartige Gruppe - ohne Ausnahme! Einige davon konntest du gar nicht mehr kennenlernen und sie dich nicht, aber mein Gefühl sagt mir, dass du dich großartig mit ihnen verstanden hättest. Wie gut du in die Boardertruppe gepasst hättest. 
 
Nein! Neeeeiiin! Nicht weiter darüber nachdenken, sonst tut es gleich wieder verdammt weh. Schnell noch ein paar witzige Infos für dich eingestreut: Wir haben eine "Gegenparty" auf Tim und Irenes Dachterrasse gefeiert und der gegenüberliegenden Schirmbar vom Stimmungsfaktor her massig Konkurrenz gemacht.
Wir durften auch neue, interessante Menschen kennenlernen: Stefan, einen Boarder aus Salzburg, Hüttenwirt "Hansi", 
ein Ehepaar aus Wien, dass sich mit Ende 70 noch die Bretterl untergeschnallt hat, Melanie und Markus, die beiden Kellner auf unserer Homebase, die sich an unserem letzten Skitag noch ein edles Schlückchen mit uns genehmigt haben (ich glaube, das war aus dem Geheimvorrat für besondere Gäste).
Jesse! Hast du Luke boarden gesehen?? Der Hammer!




Und Ada: sie stand zum ersten Mal auf ihrem kleinen Snowboard und hat schon am 2. Tag die Kurve gekriegt (im wahrsten Sinne des Wortes). Du hättest sie grinsend in den Arm genommen und sie voller Stolz fröhlich durch die Luft gewirbelt. 
 
Luke übernimmt nun deinen Part: einen Nachmittag, als wir mit Ada geübt hatten, kam er zu uns hinüber gefahren und hat seiner kleinen Schwester wertvolle und hilfreiche Technik-Tipps gegeben. Er war so liebevoll und fürsorglich ihr gegenüber, hat sie gelobt und motiviert. Wie sehr hat er mich in diesem Moment an dich erinnert - ganz der große Bruder. Er akzeptiert diese Rolle als "Großer" zunehmend leichter und ich ertappe mich dabei, wie ich manchmal "Hey Großer" zu ihm sage, obwohl doch du immer "der Große" (sprich: Älteste) warst.
 
Auch wenn du nicht körperlich anwesend sein kannst, bist du immer dabei ... in jedem von uns. In mir, in Luke, Ada und Micha... in Noah, Luca und Astrid, in Tim und Irene, in Kai, Tim und Johanna und vielen, vielen anderen warmherzigen Menschen, die diesen Skiurlaub mit uns verbracht haben. 
 
Als erstes haben wir die beiden Schlösser von dir und Vianne, die Astrid und Tim in rund 2000 Meter Höhe für dich und Vianne vor zwei Jahren angebracht haben, besucht. Danach sind wir zu euch geflogen...
Ich bin so dankbar, so ergriffen darüber, wie ungezwungen, feinfühlig und natürlich unsere Freunde mit uns und unserer schwierigen Situation umgehen. Eben diese Menschen stärken und stabilisieren uns, die, die wir hin und wieder immer noch wanken. 
Weißt du, was sie für Luke und somit auch für unsere Familie getan haben - in ganz starker Anlehnung an dich, weil sie so sehr in deinem Sinne gehandelt haben: auf Noah und Janis Idee hin haben sie ihr Geld zusammengeworfen und Luke mit einem eigenen, super-coolem Snowboard im Skiurlaub überrascht. Sein Altes war ihm zu klein geworden - das hatten sie, aufmerksam wie sie sind, mitgekriegt. Wir hatten im Vorfeld des Skiurlaubs aus Zeitmangel kein adäquates Brett für ihn finden können, deshalb wollten wir für diesen Urlaub ein Board aus dem Verleih holen und zum Saisonende abkaufen, falls es sich anbietet. Dazu kam es nicht mehr: Am Ankuftstag - wir hatten den ersten Tag bereits auf der Piste verbracht, der Rest der Gruppe trudelte nach und nach in Zauchensee ein - lockten sie uns in die Schirmbar und überreichten Luke mit einer kleinen persönlichen Ansprache sein neues Board. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ungläubig starrte er erst uns und dann den Rest der Gruppe an. Du hättest seine strahlenden Augen sehen müssen. Immer wieder fragte er uns: "Warum??" Ich glaube, ich habe genauso ungläubig dreingeschaut - bis mir vor lauter überbordender, freudig blubbernder Ergriffenheit und einem wohlig-warmen Herzschmerz dicke Tränen aus den Augen tropften.




Er musste es sofort testen. Das Board passt perfekt zu Luke. Er ist damit nicht aufzuhalten. Fly high together. 
Du bist so präsent, Jesse, - bei uns allen - obwohl mich manchmal die Angst überfällt, dass du in Vergessenheit geraten könntest. Und plötzlich kehrt sich diese Gedankenschwere in Hoffnung um:  Kurz vor unserem Skiurlaub erreichte mich eine WhatsApp von Noah. Er fragte an, ob es für mich ok sei, eine Abfahrt in Gedanken an dich mit deinem Board zu machen, denn du wolltest ihm nie glauben, dass er snowboarden kann (und wie er es kann, mein Großer). Noah! Ich muss das hier erwähnen, weil ich einfach unglaublich ergriffen von deiner Anfrage war. Du bist für Jesse, du bist mit Jesse gefahren. Danke dafür! Ebenso Kai. Ihr habt euch beide mit seinem Board abgewechselt. Kai! Was für coole Sprünge du hinbekommst. Von Herzen "Danke" an euch zwei. Was für treue, tiefgründige Freunde ihr doch seid. Ihr werdet immer einen Platz in unserem Herzen haben. Danke!
 

 

Kurz vor unserer Reise hatte ich solch eine Angst, dass du, Jesse,  ganz verschwindest. Teilweise fingest du an, im Alltag blasser zu werden .Du verblasstest in diesem Alltagsgewusel und es tat mir so weh. Ich weiß, dass ich dich ein Stück weit loslassen muss, um dieses Leben mit Ada, Luke und Micha wirklich weiterleben zu können. Es ist richtig und wichtig, sich an diese neue Realität anzupassen und zeitgleich tut es so weh. Aber es sichert unser Überleben, denn nach wie vor würden wir durchdrehen, würde das Vermissen nach dir Tag für Tag im Vordergrund stehen. Wir müssen irgendwie weitermachen. Diese Verantwortung haben wir nicht nur uns selbst gegenüber, sondern auch Luke und Ada gegenüber. Und sie leiden so sehr unter deinem Verlust, glaube mir. Ich vermisse dich so sehr, dass es mich noch immer zerreißt, wenn ich mich darauf einlasse. Und doch vertraue ich darauf, dass diese unsagbare Liebe zu dir nichts und niemand kappen kann. 
 Du bist überall und überall sendest du uns Zeichen. Das hier war ein ganz inniger Gruß an deinen Bruder - ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich das hier auf der Piste sah:
"Jess, the Baroness and Luke, the Duke"
Aber nein, du verblasst nicht wirklich, und ich bin so dankbar um jede Information, die mir zugetragen wird, dass du in den Herzen so vieler Menschen weiterlebst. Eine Zufallsbegegnung mit der Mutter einer deiner Freunde hat mir viel Energie gegeben. Sie hat mir berichtet, dass ihr Sohn noch immer dein Grab aufsucht. Damit hätte ich gar nicht gerechnet. Du bist da. In mir und in so vielen Menschen, die du berührt hast.  
Liebe Zauchensee-Gruppe: von Herzen ein dickes Dankeschön für diese wunderbaren Tage inmitten der Berge. "Wir sind so schön kaputt, aber wir sind nicht allein.. Wir sind vom Leben gezeichnet in den buntesten Farben und wir tragen sie mit Stolz, unsere Wunden und Narben...." 

Sonntag, 25. Februar 2018

Von Resignation und Aufbruch

Sag mir: Hattest du Schmerzen? Was hast du verspürt, als du auf diesen verdammten Waschbetonplatten aufgeschlagen bist? Jonas hat dich gefunden. Er und Daniel waren letztes Jahr auf unsere Bitte hin bei uns, um von deinem Sturz, um von deinen letzten Stunden und Minuten zu erzählen - um von diesem verheerenden Wochenende zu erzählen. Hast du Angst gehabt, als du gemerkt hast, dass du fällst? Du bist nach dem Sturz noch einmal kurz zu dir gekommen - das hat Jonas uns erzählt. Was hast du wahrgenommen? Was hast du in diesem Moment gedacht? Was gefühlt? Oder warst du so dermaßen unter Schock, dass du gar nichts gedacht und gefühlt hast???  Es macht mir zu schaffen, dass ich nicht weiß, wie es dir ergangen ist, während deine Lebenszeit ablief. Ich habe dich zum Tennisplatz gebracht, von wo aus ihr aufgebrochen seid. "Gib auf dich acht!", waren meine letzten Worte an dich. Wie wenig sie doch bringen... Du hast nicht auf dich acht gegeben, hast in diesem Alter noch gar nicht auf dich acht geben können. Du wirktest immer so viel weiter, älter, erfahrener... Ich habe dir noch Spaß gewünscht... Als ich di ch das nächste Mal wiedergesehen habe - rund 11 Stunden später - lagst du im künstlichen Koma und konntest nicht mehr mit mir sprechen, deine Augen geschlossen.
Es ist über zwei Jahre her... Es ist gefühlt wenige Minuten her... Kai ist im August 18 Jahre alt geworden, Fabs ist im Januar 18 Jahre alt geworden. Ich habe es noch nicht geschafft, den beiden persönliche Worte zu schreiben und ein Geschenk zu überreichen. Auch Noahs Geschenk zum 18. - ein Wakeboard-Tag mit uns - haben wir noch nicht umgesetzt. Auch du wärest jetzt 18 Jahre alt - was für ein besonderer Geburtstag! Mein Verstand weiß, dass das "wäre" und "hätte" und "würde" nur blockiert und so überflüssig ist - mein Herz weiß es nur noch nicht. Wie kann ich jemanden loslassen, den ich mehr als mein eigenes Leben geliebt habe (und ich liebe mein eigenes Leben sehr). 
Du warst so besonders, bereits als Kind. Mit fünf Jahren hast du eine Zeitlang gestottert, weil deine Gedanken so viel schneller als deine Mundmotorik waren. Es hörte sich niedlich an. Natürlich habe ich mir auch Sorgen gemacht, aber es war trotzdem niedlich. Du hattest in diesem Alter auch einen imaginären Freund, der am Frühstückstisch neben dir saß. Einmal hast du uns empört zurechtgewiesen, dass der Platz schon besetzt sei und konntest gar nicht verstehen, dass wir niemanden dort haben sitzen sehen. Beim Feueralarm in der 1. Klasse in der Grundschule bist du vor lauter Panik fast aus dem Fenster gehüpft und deine Lehrerin rief mich noch am selben Tag an, um sich nach dir zu erkundigen. Als Kind haben dir einige Dinge Angst gemacht: wackelnde und sprechende Plüschtiere, Clowns, Wasser, Puppentheater... Wer dich einige Jahre später kennengelernt hat, konnte sich dich als kleinen, ängstlichen Jungen nur noch schwerlich vorstellen, insbesondere nicht, wenn man dir beim Skate- oder Snowboarden zugesehen hat. Du warst so ein selbstbewusster, tiefgründig-charismatischer Mensch mit sehr präzisen Vorstellungen und trotzdem vielen Fragen an die Welt und das Leben - manchmal zweifelnd, oft selbstkritisch. Aber so ein paar Ängste hast du beibehalten (wie wir alle): Tao hat mir einmal lächelnd erzählt, dass du dich als Jugendlicher vor deinem eigenen Schatten gefürchtet hättest... Du bist nie mit der Masse gegangen: bei der Wahl der weiterführenden Schule war es dir nicht wichtig, welcher deiner Freunde sich ebenfalls für diese Schule interessiert. Du wusstest, wo du hin wolltest - bereits mit 9 Jahren! Philosophische Fragestellungen haben dich gepackt. Dein Freundeskreis: ebenso außergewöhnlich wie du. Deine Philosophielehrerin hat mir nach deinem Tod etwas für mich sehr Wertvolles ausgehändigt: eine schriftliche Kopie deiner Ausführungen zu folgenden Fragestellungen deiner Lehrerin: 

"Wofür sind Sie dankbar?"

"Ich bin für jeden Tag, an dem ich meine Familie und mich glücklich sehen darf, dankbar. Ich freue mich, dass ich leben darf und jeden Tag meine Umgebung und mich selber wahrnehmen darf. Ich will nicht nach dem Motto 'Lebe jeden Tag als wäre es dein letzter' leben. Ich bin dankbar für jede Facette, die mir das Leben bietet. Sei es nun eine gute oder schlechte. Das Leben ist viel zu wertvoll um seine Zeit darauf zu verschwenden, wie man am Optimalsten lebt."

"Wovon haben Sie sich befreit?"

"Ich habe mich befreit, mich über Dinge aufzuregen, die nicht von Belangen sind. Es könnten einem immer noch schlimmere Sachen widerfahren. Seid glücklich über jeden Tag in eurem Leben, freut euch über jede Kleinigkeit, denn das ist den meisten Menschen bedauernswerterweise schon lange verloren gegangen."



Du warst erst 15!!! Jahre alt, als du diese Worte geschrieben hast. Wie spannend es gewesen wäre, deinen weiteren Lebensweg miterleben zu dürfen. Ich bin so froh, dass du einmal selbst am Steuer unseres Autos gesessen hast, dass du zumindest diese Erfahrung noch machen durftest, wo dir doch so viele weitere Erfahrungen verwehrt bleiben werden. Auf dem "Weilandshof" bist du mit dem Touran mehrere Runden um die Scheune gefahren, während ich eingriffbereit und achtsam auf dem Beifahrersitz saß - und hast es verdammt gut hinbekommen und über das ganze Gesicht gelacht. Das war kurz nach Viannes Tod, im Juli 2015, sechs Wochen vor deinem Tod.Wie schön es war, dich auch nach dieser schlimmen Zeit einmal wieder so frei lachen zu hören, nach 'all den schweren Monaten/ Jahren, die du tapfer mitgetragen hast, gefangen zwischen Viannes Krankheit und deiner persönlichen Reifung zum jungen Mann .Du warst erst 12 Jahre alt, fast 13, als bei Vianne der Tumor diagnostiziert wurde. Die folgenden zwei Jahre haben Micha und ich versucht, zwischen den aufwändigen Therapien und der ständigen Sorge um Vianne für dich und Luke und Ada da zu sein. Ich glaube, wir haben es gut gemacht. Und trotzdem haben wir in dieser Zeit auch manches in deinem Leben nicht unmittelbar miterleben können - Zeit, die mir nun mit dir fehlt - wertvolle Zeit, die ich nie wieder haben werde. Und wieder könnte ich schreiend vor den nächsten Baum treten, mit solch einer inbrünstigen Wut in mir, die ein Erdbeben auslösen könnte. Ich habe eine Verpflichtung dir und mir gegenüber: Nein! Eher eine herausfordernde, wunderbare Aufgabe. Für dich werde ich leben, jeden Tag dankbar genießen, Erfahrungen sammeln, die Faszination und Absonderlichkeit dieser Welt ergründen, offen sein für das Leben in mir und um mich herum, Sachen bewegen, die mir/ die uns wichtig erscheinen, mich einsetzen und zurückhalten, staunen, aus ganzer Seele heraus lachen und lieben, voller Demut und Ergriffenheit. Ich hoffe so sehr, dass ich diesem Weg, den ich schon einmal ein paar unsichere Schritte beschritten habe, weiterhin gehen kann und nicht resigniere. Es ist eine Chance... es ist ein Aufbruch. Angst und Zweifel und Resignation bringen mich immer wieder auf dunkle, verschlungene, kraftraubende Pfade  - führen, entführen, verführen - wollen mich abhalten von meinem Weg. Sie verschleiern ihn, machen ihn unkenntlich. Manchmal folge ich diesen drei mächtigen Gegenspielern und verirre mich, 'mal bringen sie mich weiter von meinem Weg ab, mal kann ich ihn noch aus den Augenwinkeln erspähen - bisher habe ich ihn aber noch immer wieder gefunden, auch wenn ich erst am Anfang stehe. Es wird Zeit aufzubrechen - auszubrechen aus diesem Käfig aus Schmerz. Für dich! Für mich! Für uns! Bitte hilf mir dabei.

PS: 
Ich habe noch eine Bitte an diejenigen von euch, die Jesse gekannt haben: meine Erlebnisse und Erinnerungen an ihn sind begrenzt, dabei gibt es sicherlich noch so viele weitere Geschehnisse und Anekdoten, die ihr mit ihm erlebt habt. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr irgendeine, wenn auch noch so kleine, auf den ersten Blick vielleicht unscheinbar wirkende Erinnerung an ihn hier teilt, und sei es nur, weil es euch vielleicht gut tut. Natürlich immer in Jesses Sinne. Persönlich Anvertrautes ist und bleibt persönlich Anvertrautes. Ihr könnt beispielsweise über die Kommentar-Funktion schreiben. Wenn ihr anonym bleiben wollt - kein Problem.
Ich weiß auch, dass es wichtig ist, irgendwann die Vergangenheit ruhen zu lassen und das Hier und Jetzt zu leben. Das eine soll das andere auch nicht hemmen. Ich erinnere mich nur gerne und möchte nicht vergessen. Ich möchte von Jesse erzählen: deshalb schreibe ich diesen Blog.  Überlegt es euch!

Samstag, 6. Januar 2018

Wieder Weihnachten

Weißt du eigentlich, wie lange wir nicht mehr hier zuhause das Weihnachtsfest mit dir gefeiert haben? Fünf lange Jahre... 2013 waren wir mit euch allen über Weihnachten im Winterurlaub im Zillertal, 2014 im Stubaital. Die letzten drei Weihnachten haben wir zuhause verbracht, weil es keiner von uns mehr fertigbrachte, ohne Vianne und dich in den Weihnachts-Skiurlaub zu fahren. 2012 haben wir also das letzte Mal mit allen zusammen Weihnachten zuhause gefeiert. Die Bilder in meinem Kopf sind nur allzu präsent. Du warst gerade 13 Jahre alt geworden - so alt wie Luke heute ist. Einerseits fandest du das gemeinsame Plätzchenbacken und Weihnachtsbaumschmücken mit uns zusammen irgendwie blöd und peinlich, insgeheim hat es dir aber auch ein "ganz kleines bisschen" gefallen - das weiß ich, auch wenn du es damals nie öffentlich zugegeben hättest. 



Dafür gefiel dir Weihnachten mit uns zusammen im Schnee mit deinem Board unter den Füßen ausgesprochen gut - du warst gar nicht mehr von der Piste runter zu bekommen, die Pausen lediglich als ein lästiges Muss empfindend.

2013 Zillertal








2015, 2016 und auch 2017 gibt es keine Fotos mehr von dir - und doch warst du dabei: in unseren Herzen, beim Plätzchenessen, in unserem Familienadventskalender: Luke, Ada, Micha und ich haben kleine Überraschungen versteckt, die wir später zu deinem Grab getragen haben. 

Und wir haben dich nach Weihnachten über Silvester mit auf die Schweizer Berge genommen. 
 
Ich bin dein Board gefahren (argh, so schlecht wie schon lange nicht mehr, doch auf einer Abfahrt, die ich mir alleine nur mit dir gegönnt habe, ist wohl etwas von deinem Fahrkönnen und deiner Waghalsigkeit für einen kleinen Moment auf mich übergeschwappt - zumindest kurzweilig, bis ich mich überschlagen und den Tiefschnee geküsst habe.) Micha fährt in deiner roten Snowboardjacke, ich in deiner grünen Boarderhose. Gerne wäre ich dir auf dem kleinen Matterhorn in knapp 4000 Meter Höhe noch näher gekommen, aber wegen Orkanböen waren leider die Gondeln und Lifte gesperrt und wir haben es nicht dorthin geschafft. Vielleicht beim nächsten Mal...  Wir waren mit unseren engsten Freunden im Wallis - auch ihnen hast du unglaublich gefehlt. Ein Ski- und Snowboardurlaub ohne Jesse - undenkbar. Fabs hatte sich extra einen Freund mitgenommen, um jemand Adäquaten in seiner Altersklasse zu haben. Es wäre nicht nötig gewesen, wärest du noch bei uns. Uli hat mir erzählt, dass die gesamte Familie im Vorfeld überlegt habe, wer mitkommen könne. Alle Familienmitglieder warfen ein, dass es eigentlich keinen Passenderen als dich für Fabs im Winterurlaub geben könne... So ein liebevoller Gedankengang. Ich kann nur zustimmen. Du bist durch nichts und niemanden zu ersetzen...Du gehörst dazu. Für immer.... 
Ich hoffe, du kannst sehen, wie Luke boarded: du wärest so stolz auf ihn, er macht großartige Sprünge und hat eine irre Grundgeschwindigkeit...

Einfach so weitermachen - ohne dich - ist keine Option. Deshalb habe ich mich in den letzten Wochen der inneren Ruhe und Besinnung ganz bewusst dazu entschieden, die vielen wundersamen und wunderbaren Dinge des Lebens wieder zu suchen und wahrzunehmen, zu fühlen, zu spüren und einzuatmen. Für dich werde ich sie einatmen... und für mich. 

PS: schau 'mal, was ich mit meinen Skiern gemacht habe😕😁😲😂



 Aber keine Sorge, deinem Board geht es (noch) gut😜
 


Frohe Weihnachten, Großer💗



Wir sehen uns im Pink Flamingo!