Deine Geschwister, deine Freunde, sie alle gehen weiter, probieren sich aus, scheitern hin und wieder und rappeln sich mutig wieder auf. Es ist wunderbar, sie ein Stück beim Wachsen begleiten zu dürfen, zu sehen, welche Richtung sie einschlagen und wieder verlassen, wie sie sich an Unbekanntes herantrauen und die Welt erkunden. Da wird ein Studiengang gewechselt, dort ein Auslandssemester eingelegt, hier beharrlich versucht, eine Prüfung zu bestehen und dort drüben ein Tauchkurs absolviert und eine große Reise geplant. Es ist wunderbar, dass wir so nah an deinen Freunden dran sein dürfen, dass sie dich und uns auch nach vier Jahren an ihrem Leben teilhaben lassen. Du lebst für uns durch sie weiter. Was für ein Geschenk! Ich bin so stolz auf dich und deine Freunde. Nicht jeder findet so wunderbare treue Weggefährten, wie du sie schon in jungen Jahren um dich hattest: eine Mischung aus Tiefsinnigkeit, Herz, Revolution, Humor, Mut, Wissenshunger und Lebensdurst. Wie gerne hätte ich auch dich wachsen sehen, Jesse. Wo stündest du heute? Welcher Studiengang hätte sich an dir erfreuen dürfen, welchem Prof. hättest du herausfordernd-ironisch-charmant auf die Palme getrieben? Wo wärest du in der Welt gelandet? Wo hättest du Halt gemacht, wo wärest du gestrauchelt?
Erst gestern habe ich ein Foto von Ada und der kleinen Ilvi gemacht. Ada ist nun so alt wie du, als du sie und Vianne das erste Mal in deinen Armen gehalten hast... ganz vorsichtig, noch etwas unsicher, aber sehr behutsam und liebevoll. Sie beide haben dich immer als ihren großen "Beschützer" angesehen, der sie gleichzeitig zum Kichern bringt und wild durch die Küche wirbelt. Du fehlst...
Ich sehe dich mit elf Jahren nach deinem Training schmunzelnd durch den Garten zur Terrassentür kommen, den Fahrradhelm noch auf dem Kopf und den Tennisschläger in der Hand, liebevoll-schelmisch grinsend. Die Zwillinge, gerade mal ein Jahr alt, wanken dir begeistert entgegen und wir müssen beide Acht geben, dass sie nicht in den Garten und auf Nimmerwiedersehen entwischen. Und auch Luke konnte es damals oftmals kaum erwarten, dass du zurück warst und mit ihm gemeinsam ein paar Legosachen aufgebaut hast. Wir alle vermissen dich auf unsere ganz eigene Art.
Erst vor einigen Tagen schlug eine intensive "Jesse-Schmerzwelle" über mir zusammen, aus heiterem Himmel. Ohne Schirm oder Unterstand platschte meine Sehnsucht nach dir einfach ungeschützt auf mich hernieder und rann in kleinen Rinnsalen an mir herab. Das Vermissen war überwältigend, beinahe wie in den ersten Monaten nach deinem Tod. Bitte lass uns nur noch ein einziges Mal am Küchentresen hitzig-schmunzelnd debattieren, bitte wirbele Ada nur noch ein Mal um die eigene Achse, bitte stupse Luke nur noch ein Mal schmunzelnd an...
Verdammt, es gibt sogar noch deinen Facebook-Account, wo du verschiedene Dinge geliked hast: Snowboard-und Skateboard-Clips, Musik, Gruppen... Und dann diese Parallelen, die schön und erschreckend in einem sind. Ada bekommt deine ehemalige Klassenlehrerin, die dich durch die Unterstufe begleitet hat. Luke wurde erst letztens von einem Lehrer und später auch noch von mir versehentlich mit "Jesse" angesprochen. Es tat ihm weh und mir unsagbar leid. Er sieht dir ähnlich, hat aber auch etwas ganz Eigenes. Er ist anders als du, und dir doch in manchen Dingen und Interessen so gleich: Antifa, fit X, tolle Freunde... Er freut sich wahnsinnig auf die Skifahrt mit der Oberstufe. Du, der große Bruder, fehlst ihm so sehr. Er hätte deinen brüderlichen Rat ein ums andere Mal gut gebrauchen können. Manchmal muss er dich verdrängen, um da sein zu können. Ada spricht offen von dir. Erst gerade kam sie zu mir und meinte schmunzelnd, dass sie die Hochlandrinder auf der Wiese gegenüber gefüttert hätte: "Also, der Große ist Papa, die zwei die sich so ähnlich sehen, also die 'Bullengeschwister', nenne ich Jesse und Luke, und die Kleine heißt Greta." Ada ist zauberhaft. Ich genieße die wilden Ausflüge über die Felder mit ihr. Sie ist und bleibt ein Wildfang. Luke und du werdet gut auf sie Acht geben müssen...
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