Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Mittwoch, 16. November 2016

Heute

Zitat Jesse (im Alter von 12 Jahren): "Ein Teil der Zukunft liegt in der Vergangenheit, doch ein anderer liegt bei uns."

Wie weise du warst..., mein Großer! Ich weiß, dass die Entscheidung, welchen Weg ich letztendlich einschlage, ob ich an deinem Verlust zerbrechen werde oder mich mutig dem Hier und Jetzt entgegenwerfe, mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen und einer großen Portion Zuversicht in den Augen, ganz allein bei mir liegt. Nur Funktionieren reicht nicht, das spüre ich mit jeder Faser meines Körpers und mit jedem Aufschrei meiner Seele. Ja, ich weiß darum und doch ist es so schwer, aus diesem klebrigen, zähen, pechschwarzen Teer aus Schmerz und Sehnsucht aufzutauchen. Ich möchte dich/euch einfach nur wiederhaben...euch anschauen und berühren dürfen, euch zuhören und mit euch gemeinsam lachen, streiten, weinen, diskutieren, scherzen, mit euch erleben, euch meinen Blick auf die Welt zeigen und mir euren zeigen lassen...einfach mit euch leben!
Jesse, obwohl du noch gar nicht erwachsen warst, hat mir deine Gegenwart immer Sicherheit gegeben. Wie dringend bräuchte ich jetzt deinen Rat, wie gerne würde ich deine Überlegungen teilen! Mir fehlen deine weisen Worte und deine, wenn auch manchmal skurrilen Vorschläge sowie deine revolutionären Ansichten ("Macht aus dem Staat - Gurkensalat", "Ob friedlich oder militant, wichtig ist der Widerstand!") Wie oft wir dabei aufeinandergeprallt sind, was für energiegeladene, kontroverse Diskussionen wir ausgetragen haben - häufig gewürzt mit einer Prise Ironie und einer Messerspitze Sarkasmus. Die Liebe zur Philosophie war uns beiden zu eigen. Vor anderthalb Jahren hast du dir von Fynn das Buch "Sigmund Freud" ausgeliehen. Dabei warst du gerade erst 15 Jahre alt und hattest doch den weisen Blick eines Menschen, der schon einmal hinter den Vorhang geschaut hat - auch wenn du altersbedingt so einigen Mist gebaut, ausufernde Partys gefeiert und dich ausprobiert hast, auch über Grenzen hinaus. Aber du wusstest, was du wolltest, warst nie ein schnöder Mitläufer. Unglaublich!

Deine Freunde haben mir erzählt, dass dein Stuhl im SoWi-Leistungskurs im letzten Schuljahr unbesetzt geblieben ist. Niemand hat sich dort hingesetzt, so, als ob du noch anwesend wärst. "Jesse war eigentlich der SoWi-Kurs", hat mir mal eine Freundin von dir erzählt, da du die Stunde so wahnsinnig aktiv mitgestaltet hättest.
Manchmal glaube ich, dass du und Vianne schon sehr weit gereist ward, dass ihr nur noch eine klitzekleine Aufgabe hier - in dieser Welt - zu erledigen hattet, dass euch nur noch eine winzige Erkenntnis sammeln musstet, um weiterzuziehen... oder um zurückzukehren an einen Ort, an dem wir alle bereits viel mehr Zeit verbracht haben als hier auf der Erde, in diesem Leben, in dieser Dimension. Wer weiß?

"Gestern ist weg. Morgen ist noch nicht gekommen. Wir haben nur heute. Lasst uns beginnen." (Mutter Teresa)

Ich weiß, dass du nicht gewollt hättest, dass ich mich verliere. Ich glaube, nein, ich hoffe, ich bin auf einem guten Weg. Allerdings schleicht sich jetzt eine Wut ein, die bisher so noch nicht durchgedrungen ist, nun aber stetig zu wachsen scheint. Es ist die Wut auf all' die vielfältigen Erfahrungen und Erlebnisse, die dir verwehrt geblieben sind. Deine Freunde haben jetzt ihren Führerschein gemacht. Verdammt! Natürlich freue ich mich für sie. Aber es schmerzt. Als wir uns letztens mit unseren Freunden zur Wanderung am Schwarzenberg getroffen haben, hat Noah seine Eltern hergefahren. Wie sehr ich mir gewünscht hätte, dass du uns fährst - gerade frisch den Führerschein in der Hand. Ich sehe es ganz bildlich vor mir. Du am Lenkrad, Noah am Lenkrad, und Astrid und ich mit einem fetten, stolzen Grinsen im Gesicht auf unsere großen Jungs. Im Winterurlaub, den wir mit ebendieser Truppe verbracht haben, hat sich Noah sehr lieb um Luke gekümmert, hat ihn einbezogen, hat ihm Snowboard-Tricks gezeigt. Verdammt! Es war so herzlich von ihm und hat Luke so gut getan. Danke Noah!  Aber warum durftest du nicht für Luke da sein???  Warum durftest du dich nicht als großer Bruder einbringen? Scheiß-Wut! Wohltuende Wut! Verzehrende Wut! Letztens fuhr ich abends mit Ada im Auto. Plötzlich sagte sie mit einer Mischung aus Inbrunst, Wut und Sehnsucht: "Das ist so unfair!" "Was ist unfair?", fragte ich sie. Sie antwortete: "Da ging gerade ein Mädchen her , so alt wie ich, mit einem Jungen an der Hand, so alt wie Jesse - und Jesse ist tot!" "Ja, das ist unfair!", antwortete ich bestimmt. Wir alle fühlen uns betrogen um das Leben mit dir und Vianne. Ja, unfair!!!   

"Lass mich jetzt bitte los", flüsterte die Vergangenheit, während die Zukunft mit offenen Armen daneben stand." (unbekannt)

Freitag, 28. Oktober 2016

Geburtstag

Es ist bereits der zweite Geburtstag, den wir - ohne dich, aber in Gedanken ganz nah bei dir - "gefeiert" haben. Im letzten Jahr war dein Tod gerade einmal vier Wochen her. Vier Wochen trennten dich nur noch von deinem 16. Geburtstag. Dein 16. war dir so wichtig - endlich hättest du "offiziell" länger mit deinen Freunden, die alle mindestens ein halbes, wenn nicht sogar ein Jahr älter waren, da du schon mit fünf Jahren eingeschult worden bist, unterwegs sein können. Du hättest endlich neue Rechte (und Pflichten, hähä) gehabt. Tao und Marvin hatten sich schon eine entsprechende Überraschung ausgedacht...sie hätte dir gefallen und ich sehe in Gedanken dein verschmitztes Lächeln vor mir.  Wir hatten damals erst überhaupt keinen Plan, wie wir deinen Geburtstag ohne dich angehen sollten. Allein die Vorstellung, zuhause bei Kaffee und Kuchen zusammenzusitzen, löste bei mir einen Brechreiz aus. Beim Laufen kam mir schließlich die zündende Idee. Ausgestattet mit Kerzen, deinem Lieblings-Schokokuchen (mit flüssigem Schokokern) und Fotoausdrucken (auf denen du jeweils mit einem von uns abgebildet bist) haben sich Micha, Ada, Luke und ich auf's Rad geschwungen und sind zu den Orten gefahren, an denen du häufig und gerne warst. Und wir hatten deinen Rucksack mit den Spraydosen dabei... Ich musste raus, dir Nahe sein, Dinge tun, die du gerne gemocht hast. Unsere erste Tour ging nach Iserlohn zur Skateanlage unter der Seilerseebrücke. Dort haben wir uns mit deinen Freunden getroffen, die uns eingeladen hatten, dazu zu kommen. Wir fühlten uns so sehr willkommen. Du hast tolle Freunde!! Sie haben Teelichter für dich aufgestellt, haben später am Abend Schwimmlichter über den See treiben lassen... und andere Dinge getan, die dir gefallen hätten - ganz sicher. Wir haben Kuchen und Getränke geliefert. Es war so leicht in ihrer Gegenwart. Wir alle, auch Ada und Luke, fühlten uns dir so nah inmitten deiner engsten Freunde. Deine Freunde haben eine Atmosphäre geschaffen, die man - glaube ich - nur hinbekommt, wenn man jünger ist. Natürlich waren Traurigkeit und eine enge Verbundenheit, Ernsthaftigkeit und Wertschätzung, auch Vermissen zu spüren, aber auch noch so viel mehr: etwas Leichtes, Lebendiges, Energiegeladenes, etwas Renitentes, Sprühendes, etwas was Zukunft zuließ. Wir haben dir einen Schokomuffin, eine Kerze und Fotos dagelassen - und sind weitergezogen... Nächster Halt: Hauptschule Hennen. Du bist dort mal auf dem Dach gescatet (hätte ich das vorher gewusst hätte ich dir eine gehörige Standpauke gehalten, mein Lieber), ihr habt euch dort getroffen, mal Basketball gespielt, sicherlich noch etlichen weiteren Blödsinn veranstaltet... Auch wir haben Blödsinn veranstaltet, gemeinsam mit Ada und Luke - und es fühlte sich gut und reinigend und revolutionär an, frei nach dem Motto: F... dich, Schicksal. Wir haben albern gekichert, innig an dich gedacht und du hättest dich sicherlich über uns schlapp gelacht und ungläubig dreingeschaut, hättest du uns sehen können. Auch hier haben wir Kerzen, Kuchen und Fotos zurückgelassen... und einen Teil von dir. 




Anschließend sind wir zum Friedhof geradelt: Kerze, Kuchen, Foto. Dann hatten Luke und Ada keine Lust mehr, aber eine Station lag noch vor uns: die Ruhr. Deine Geschwister sind zuhause geblieben, das war für uns völlig in Ordnung. Micha und ich haben uns dann ohne die zwei auf den Weg zu Schoofs Brücke gemacht und sind in das kleine Wäldchen gegangen. Der ganze Waldboden war von Kastanien übersät, die Äste der Bäume haben im Wind geknarzt. Kerze, Kuchen, Fotos. Du warst da! Die Mauer im Bahnwald habe ich später besucht...
Vor wenigen Tagen wärst du 17 Jahre alt geworden. Wir waren über deinem Geburtstag auf Mallorca - wie damals vor zwei Jahren, im Oktober 2014. Da haben wir alle zusammen abends bei "Joan Marc" - einem erstklassigen und experimentell angehauchten Restaurant in Inca - gefeiert. Alle: Vianne, Ada, Luke, Micha, Andi, Ralf, ich und natürlich du! Du hast in Ibérico Schweinefleisch von Pata negra Schweinen geschwelgt, du alter Gourmet. Auch dieses Jahr waren wir wieder gut und gehoben essen - aber nicht bei Joan Marc, das hätten wir emotional nicht geschafft. Zuvor haben wir gemeinsam mit Andi und Ralf, Luke und Ada sechseinhalb Stunden lang den Torrent de Pareis bezwungen, die monumentale Sa Calobra Schlucht - mit Vianne und dir im Gepäck. Wir sind geklettert, geschlittert, ausgerutscht, haben uns durch schmale Spalten unter riesigen Felsbrocken hindurchgequetscht, uns an Seilen entlanggehangelt und gegenseitig gesichert. Es war anstrengend, aber ebendiese körperlich und mentale Anstrengung tat unglaublich gut. Vor beeindruckender Felskulisse habe wir ein Teelicht für dich aufgestellt (der Ort hätte dir gefallen) und dir ein leises Geburtstagslied gesungen.








Mittwoch, 5. Oktober 2016

Wasser

Es gibt so viel zu erzählen, und ich habe Sorge, auch nur die winzigste Erinnerung an dich zu verlieren. Ich will nicht vergessen, nicht eine einzige Sekunde dieser 15 Jahre und 11 Monate mit dir, bei dir, neben dir. Denn es wird keine neuen Erlebnisse mehr geben.... Ich wusste bis gerade eben gar nicht so genau, wo ich anfangen soll. Chronologisch vorzugehen erschien mir zu organisiert, zu konstruiert - das würde auch nicht passen, weder zu dir noch zu mir. Wir haben beide so unsere chaotischen Züge, kommen letztendlich aber immer irgendwie an. Und jetzt weiß ich, wie ich vorgehe. Ich schreibe immer dann, wenn ich eine Sache mache und dabei die Erinnerung an dich plötzlich da ist. Aus dem Nichts. Das passiert sehr, sehr häufig. Meine erste Erinnerung in den letzten Tagen - zum Thema "Wasser" - kam beim Kitekurs in Holland. Ich hatte zeitweilig wirklich Angst, vom Kiteschirm unkontrolliert durchs Wasser gezogen zu werden. Ich bin ein sicherer Schwimmer, und trotzdem habe ich großen Respekt vor Aktionen auf und im Wasser. Auch du mochtest Wasser lieber in gefrorener Form - nämlich unter deinem Snowboard.... und darauf warst du wahnsinnig gut. Während Luke von Geburt an eine "Wasserratte" war, standest du diesem Element von Anfang an eher skeptisch gegenüber. 
Als du acht Monate alt warst, habe ich mit dir einen Babyschwimmkurs besucht. Schon beim Betreten der völlig überheizten Schwimmhalle hast du äußerst skeptisch geguckt. Sobald ich mit dir auf dem Arm ins Becken gestiegen bin, hast du angefangen zu schreien und der Umwelt lautstark deinen Unmut kundgetan. Die meisten anderen Babys glucksten indessen vor Freude und strampelten vergnügt mit ihren kleinen speckigen Beinen. Die Schwimmlehrerin wandte sich völlig entspannt an mich: "Das gibt sich. Warten Sie's ab." Nun ja: Ich wartete ab, aber beim achten Mal hast du immer noch lauthals gebrüllt, während die anderen Babys fleißig und tiefenentspannt untertauchten. Zum Ende des Kurses meinte dann auch die Schwimmlehrerin: "Ähm, Ihnen würde ich keinen weiteren Kurs empfehlen." Ach so...
Ich glaube, du warst acht Jahre alt, als du das erste Mal den Kopf freiwillig unter Wasser gesteckt hast, obwohl du früh, mit gerade einmal fünf Jahren, auf Korsika schwimmen gelernt hast. Seltsam. Früher warst du viel mehr auf Sicherheit bedacht als in den letzten Jahren. 
Du warst ungefähr zwei Jahre alt, als wir mit dir an die Algarve geflogen sind. Allerdings durften wir uns dem Meer und den Wellen auf gerade einmal 20 Meter nähern. Sobald du die Wellen gesehen hast, hast du angefangen zu brüllen. War ein wirklich "entspannter" Strandurlaub mit dir. Zumindest mussten wir nie Sorge haben, dass du ertrinkst. 
Als du drei Jahre alt warst sind wir zusammen ins Freibad gefahren. Du bist - schon etwas mutiger - neugierig zum Beckenrand gerannt. Ich habe die Schwimmärmchen hervorgeholt und dir erklärt, dass es sicherer sei, sie zu tragen, da du ja noch nicht schwimmen konntest. Am nächsten Tag wollte ich mit dir lediglich einkaufen gehen. Während wir schon aufbruchbereit im Flur standen bist du noch einmal zurück in dein Zimmer gelaufen, hast deine Schwimmärmchen hervorgekramt, sie dir über die Arme geschoben und ernst und feierlich verkündet: "Is sicherer!" Also sind wir in voller Schwimmärmchenmontur losgezogen, denn ich konnte dich nicht bewegen, die Dinger wieder auszuziehen. Im Supermarkt wurden wir gefühlte 1000 Mal von freundlichen älteren Damen angesprochen, ob es gleich noch ins Schwimmbad ginge. Du hast sie alle angestrahlt, deinen strohblonden Schopf geschüttelt und nüchtern verkündet: "Ne, aber is sicherer!" Irgendwann hast du aber gemerkt, dass Schwimmen sogar Spaß machen kann. 2008 am Achensee hat Luke dich hinterhältig von einem Fels in voller Montur ins kalte Wasser geschubst und du hast es mit der Fassung eines älteren Bruders getragen - zumindest in unserer Gegenwart. Ich glaube allerdings, du hast dich später an ihm gerächt... ich erinnere mich an den Achensee und eine Schmerzwelle überrollt mich gerade: auch letztes Jahr - Sommer 2015 - waren wir da... unser letzter gemeinsamer Sommerurlaub mit dir und Vianne... es ging Vianne schon schlecht in den letzten Tagen dieses Urlaubs... Wir versuchten, mit lustigen Spielen die Schwere zu vertreiben und in die Schranken zu weisen, wollten einen Hauch Unbeschwertheit leben. Ich ging mit dir und Luke zum Steg, wo wir uns lustige Spielchen ausdachten. Wer mehrere Fragen, die wir uns spontan ausgedacht hatten, nicht richtig beantworten konnte, wurde ins Wasser geschubst. Es war bereits dunkel. Du hattest nicht damit gerechnet, dass du die von Luke gestellte Frage nicht beantworten konntest und bist unter heftiger Gegenwehr schließlich doch wieder im Achensee gelandet. Du fehlst... Es ist etwas mehr als ein Jahr her... und ist doch so lebendig in meiner Erinnerung! Wasser....
Im Sommer 2011, zum Ende unserer Frankreich-Tour, hatten wir gemeinsam mit Freunden ein schönes Ferienhaus mit einem großartigen Pool gemietet. Luke nahm Anlauf und sprang einen Salto vom Beckenrand. Das hat dich total gefuchst, weil du dich anfangs nicht getraut hast, obwohl du der Ältere warst. Du hast etliche Anläufe gemacht, dann aber kurz vorm Absprung gezögert, was zu wirklich lustigen "Stunts" geführt hat. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ob du es am Ende hinbekommen hast... 
Wakeboarden fandest du in Ordnung, es wurde aber nie zu deinem Lieblingssport. Der Surfkurs am Gardasee im Sommer 2014, gemeinsam mit Kai, hat dir richtig gut gefallen. Und 2013 in der Schweiz hast du dich gemeinsam mit Martin, Paula, Micha, Luke und mir von der Rheinströmung mitreißen lassen. Was für ein Spaß! Abgesehen von deiner etwas schwierigen Kleinkind-Wasserphase hast du dich später immer gerne im oder am Wasser aufgehalten: du hast - ebenso wie ich - das Meer geliebt, allerdings mit dem nötigen Respekt. Und zuletzt hast du dich oft mit deinen Freunden an der Ruhr oder am Seilersee getroffen... Wasser...















Sonntag, 18. September 2016

Ein weiteres Mal...

Vor wenigen Stunden bist du ein weiteres Mal gestorben - und wieder stand ich hilflos daneben, zum Zusehen und Warten verurteilt ohne den Hauch einer Chance, auch nur irgendetwas aufhalten, ändern, beeinflussen zu können. Ich hasse diese Rolle als passiver Betrachter... Also konzentriere ich mich auf die Dinge, die ich zumindest ein wenig beeinflussen kann. 
Deine letzten Stunden... dieses Mal mit der grausamen Gewissheit, dass es wirklich passieren wird. Ich bin nur noch Eis, schon vormittags. Luke ist beim Fußballspiel, Ada auf einem Kindergeburtstag. Sie bekommen zum Glück nichts von meiner Verfassung mit. Ich weiß nicht wohin mit mir, bis Druck und  innere Unruhe so groß werden, dass ich meine Laufschuhe anziehe. Allein die Entscheidung, in welche Richtung ich laufen soll, verlangt mir schon so viel ab. Ich kann heute nicht durch den Bahnwald und am See entlang - zu viele Erinnerungen, das packe ich nicht, also laufe ich Richtung Dellwig, schreie innerlich, und finde anfangs doch keine Entlastung. 
Es ist 11:25 Uhr...im letzten Jahr ein Donnerstag. Zu dieser Zeit müsste ich bereits in Hamm in der Klinik angekommen sein, in der du seit sechs Tagen liegst - im künstlichen Koma... Ich löse Micha ab. Wir haben ein kleines Zimmer im Schwesternwohnheim auf dem Klinikgelände bezogen, um auch in der Nacht in deiner Nähe sein zu können. Lila. Ich erinnere mich an geschmacklose lila Deko in diesem kalten Zimmer mit Linoleumboden. Lila Kunstblumen auf dem Tisch? Ich bin mir nicht mehr sicher. Trotzdem bin ich dankbar für dieses Zimmer in deiner Nähe. Micha schaut besorgt, als ich ihn ablöse. Wir sind ganz nah bei dir auf der Intensivstation. Du siehst gar nicht so schlimm verletzt aus - von außen betrachtet. Du liegst einfach nur ruhig da, als ob du lediglich schlafen würdest. Ein Bluterguss am Auge, Schwellungen, Schrammen... Aber die CT- und Röntgenbilder sagen etwas anderes. Der Tubus in deinem Hals schreckt mich nicht, ich habe ihn schon allzu oft in der Vergangenheit, bei Vianne gesehen. Er hält dich am Atmen. Die Ärzte mussten den Tubus am Mittwoch wechseln, weil er undicht war. Dabei wurde ein weiteres Stück aspirierten Materials in deiner Lunge gefunden. Du hast dadurch eine schlimme Lungenentzündung bekommen... es ist übel. Seitdem verschlechtert sich deine Sauerstoffsättigung, deine Lungen werden nicht richtig belüftet. Du hast Fieber, das nur schwer in den Griff  zu bekommen ist, trotz zahlreicher Medikamente. Das ist der Stand der Dinge am Donnerstagvormittag. 
Micha fährt schließlich nach Hause, um bei Luke und Ada zu sein. Ich lese dir, wie so oft in den letzten Tagen,  aus dem Buch "Nordkorea" vor, das du von Tao bekommen hast, immer in der Hoffnung, dass meine Stimme zu dir durchdringt, dass dir Taos Buch die nötige Kraft geben wird, um zu kämpfen. Ich erzähle dir von zuhause. Irgendwann kommt ein Pfleger in dein Zimmer (du hast ein Einzelzimmer auf der Intensivstation). Er macht solche Andeutungen, dass es gar nicht gut aussieht. Ich bin besorgt, aber ich hoffe, dass du dich nach dem Tubuswechsel erholen wirst, schließlich konnten sie doch das vereiterte Stück entfernen... Die Ärzte kommen. Oder war es nur ein Arzt? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Sie wollen dich in ein spezielles Lagerungsbett packen, um die Lunge besser belüften zu können. Es ist eine Gradwanderung, weil du ein schweres Schädel-Hirntrauma durch den Sturz erlitten hast und deinem Kopf so viel Ruhe wie möglich gegönnt werden soll. Bisher ist dein Hirndruck stabil. Sie haben eine spezielle Hirndrucksonde in deinen Kopf gelegt. Ich habe die Zahlen darauf ständig im Blick. Ebenso deine Sauerstoffsättigung, die weiterhin zu fallen scheint, trotz mittlerweile hundertprozentiger Zufuhr. Ebenso deine Temperatur, die trotz äußerer Kühlung kaum runtergeht. Angst kriecht in mir hoch und schlingt ihre tastenden Tentakel um mein Herz. Nein! Du kannst nicht sterben. Vianne ist gerade erst gestorben. Nach Wahrscheinlichkeitsrechnung darf das hier alles gar nicht passieren.  Die Ärzte meinen, dass dieses spezielle Bett so schnell wie möglich eingesetzt werden soll. Es sei schon auf dem Weg in die Klinik. Die Neurochirurgen hätten "grünes Licht" für den Einsatz gegeben. Während des Umbettens werde ich gebeten, die Intensivstation zu verlassen. Es ist früher Nachmittag. Ich dürfe später wieder vorbeikommen, so in anderthalb Stunden, versichert man mir. Ich küsse dich noch einmal. Ich will nicht gehen. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, wo ich die anschließende Zeit verbracht habe. Im Krankenhausbistro? Im Zimmer? Ein Spaziergang im Park? Nach anderthalb Stunden gehe ich zurück und bediene die Sprechanlage im Wartezimmer. Ich werde vertröstet, ich müsse noch etwas warten. Andere Besucher kommen, drücken die Sprechanlage und werden eingelassen. Ich rufe Micha an. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl und bitte ihn, zurückzukommen. Es ist mittlerweile später Nachmittag. Wir sitzen gemeinsam im Wartezimmer, angespannt, ängstlich, besorgt und drücken in regelmäßigem Abstand die Sprechanlage und warten, dass wir eingelassen werden. Irgendwann bekommen wir von einer Schwester die Info, dass das Lagerungsbett nicht zum Erfolg geführt hat und dass der Hirndruck unter der Therapie angestiegen ist. Nun wollen sie dich wieder zurückbetten. Wir sollen warten. In diesem nüchternen, grell erleuchteten Wartezimmer. Ich gehe auf und ab, ab und auf, wie ein Tiger in einem viel zu kleinem Käfig. Fünf Schritte in die eine, fünf Schritte in die andere Richtung. Ein besonderer Mensch hat mir einmal den Rat gegeben: weiterlaufen...immer weiterlaufen. Schließlich wird jede Minute des Wartens zur Qual. Wir warten, während du schon um dein Leben gekämpft hast... Hast du gekämpft? Oder hast du dich bewusst entschieden aufzugeben, weil deine Kopfverletzungen vielleicht so schwer waren, dass du so nicht leben wolltest? Was hast du gedacht....? Hast du noch gedacht....? Was hast du wahrgenommen...? Was empfunden....? Es ist ungefähr acht Uhr am Abend. Die Tür zur Intensivstation geht auf. Ein älteres Pärchen, dass kurz zuvor erst eingelassen worden war, muss die Station bereits wieder verlassen. "Irgendetwas stimmt hier nicht", schreit es in mir. Alle meine Alarmglocken gehen an. Angst, tiefe zähe Angst würgt mich. Irgendetwas passiert gerade... Wenig später steckt ein Arzt seinen Kopf kurz aus der Tür heraus und sagt nur wenige Worte: "Wir reanimieren gerade - ich muss wieder zurück." Ich bin ruhig... viel zu ruhig... ich sterbe gerade mit... Im Wartezimmer hängt ein Kreuz. Ich glaube nicht an die Kirche und nicht an den von Menschen gezeichneten Gott aus der Bibel. Trotzdem falle ich auf die Knie. Gebe ein Versprechen ab. Bete. Verzweifelt. Eine Stunde später öffnet sich die Tür zur Intensivstation erneut. Dieses Mal kommen zwei Ärzte... 
Wir gehen zu dir.... ein letztes Mal. Wir durften nicht an deiner Seite sein, als du gestorben bist... Verzeih mir!

Ich habe Ada und Luke heute Abend beim Zubettbringen gefragt, was sie dir sagen möchten. 
Ada: "Dass ich ihn lieb habe und ihn vermisse. Ich weiß manchmal gar nicht mehr, wie das war, als er noch bei uns war. Das ist ganz seltsam. Jesse war ein lustiger Kerl! Aber ich weiß noch, dass er Vianne und mir immer geholfen hat, wenn wir Streit mit Luke hatten."
Luke: "Du Mistkerl! Ich bin ganz allein!"

Gute Nacht, Jesse!
"Meine Seele zu deiner Seele, mein Herz zu deinem Herz." Das waren meine Worte, mein Versprechen an dich, als du erst wenige Wochen alt warst... ich habe dich liebevoll betrachtet, während du geschlafen hast, und mein Herz quoll über vor Liebe...

Freitag, 16. September 2016

Vertrauen in andere...

für Luke und Ada (und natürlich auch für dich, kleine Vianne) für Fynn, Tao, Kai, Alisa, Tom, Marvin, Theresa, Rafael...




"Vertrauen in andere haben viele, Vertrauen in sich selbst nur wenige." (Jesse Stember, 2011)


Ich bin soweit. Es hat lange gedauert, ich habe lange gehadert mit mir. Würde Jesse es wollen? Diesen Blog? Ich sehe ihn gerade vor mir sitzen an unserer Küchentheke, eine Augenbraue (zumindest eine halbe) hochziehend, mich herausfordernd, halb belustigt anschauend...ein leichtes, überlegendes Grinsen im Gesicht, das verräterisch in seinem Mundwinkel zuckt, gepaart mit einem Hauch Ironie und Sarkasmus. Und dann würde sie losgehen, die Diskussion, die hitzige Debatte... Wie sehr mir das fehlt... Jesse hätte auch gewusst, dass ich nicht so leicht klein beigebe. Ja, dieser Blog tut mir gut - alles andere wäre gelogen - denn der Blog hilft, einen Teil von Jesse zu bewahren. Für mich, aber euch für euch, die ihr Jesse im Herzen tragt. Und das hätte Jesse gefallen...weil ihr - die Famile und  ihr - die engsten Freunde - ihm sehr sehr wichtig ward! Es gibt so viele Geschichten, die erzählt werden möchten, es gibt so viele Erinnerungen, die zu schade sind, als dass sie irgendwann in der hintersten Gedächtnisschublade verstauben und natürlich gibt es auch immer Dinge, die nicht erzählt werden wollen.
Muss dieser Blog öffentlich sein oder soll ich ihn lediglich für einen ausgewählten Kreis öffnen? Nur: Darf ich entscheiden, wer letztendlich zu diesem ausgewählten Kreis gehört? Die Familie natürlich, unsere engen Freunde, die Jesse von Geburt an kennen und lieben gelernt haben. Und natürlich Jesses Freunde. Ich kenne  zwar einige von Jesses (engsten) Freunden - aber eben nicht alle und es gab so viel mehr Menschen in Jesses Lebensumfeld, die ihn wertgeschätzt haben und die ich vielleicht nicht im Blick habe - und die möchte ich nicht ausschließen...
Ja, ich möchte euch hier von Jesse erzählen...vieles wird euch vertraut vorkommen und Erinnerungsbilder aufleuchten lassen, einiges wird euch ein Schmunzeln entlocken, anderes wird euch vielleicht erstaunen. Aber all das war Jesse - in seiner ganzen außergewöhnlichen und liebenswerten Persönlichkeit, die nicht nur mich fasziniert hat...