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Montag, 9. Januar 2017

Blaubeer-Pfannekuchen

Hey Großer,
es tut mir leid, dass ich mich erst jetzt wieder bei dir melde - ich habe es im Dezember einfach nicht geschafft. Die Vorweihnachtszeit hat mir mehr zugesetzt, als ich mir eingestehen wollte. Ich habe mich so sehr in die Arbeit gestürzt, dass kaum Raum für etwas anderes geblieben ist - sicherlich steckte ein wenig Selbstschutz dahinter. Dabei dachte ich, dass zweite Weihnachten ohne dich würde etwas leichter - eine grobe Fehleinschätzung. Wir haben wieder unseren Familien-Adventskalender aufgehängt. Du erinnerst dich? Vianne durfte am 1. Dezember ein Tütchen öffnen, Ada am 2., Luke am 3., du am 4. ich am 5. und Micha am 6. und so weiter, streng nach Alter. Vianne hat sich immer wahnsinnig gefreut, dass sie sieben Minuten jünger ist als Ada, während die einen Schmollmund zog und lauthals protestierte, dass sie noch einen Tag warten musste.. Wir behalten diese Familientradition bei, auch wenn ihr beide nicht mehr körperlich anwesend sein dürft. An diesem Weihnachtsfest hatten wir vorher mit Luke und Ada besprochen, dass jeder von uns einmal dein und einmal Viannes Adventskalender-Tütchen füllt. Deine Geschwister haben sich wirklich schöne Dinge für dich einfallen lassen. Ada hat ein rosa-grünes Bügelperlen-Pferd für dich gemacht, Luke hat dir zwei seiner Finger-Skateboards geschenkt. Diese Geschenke liegen nun auf deinem Grab. Du wärst stolz auf die beiden, sie halten sich wirklich tapfer. Der Heiligabend verlief bis zum späten Nachmittag ganz gut. Wir hatten uns vormittags - wie auch im vergangenen Jahr - mit Schoofi, Volker und den Kindern zu einer gemeinsamen Treckerfahrt mit anschließender Abenteuerwanderung und vietnamesischen Essen getroffen. Luke hatte bereits am frühen Morgen kleine chinesische Teigbällchen mit Gehacktesfüllung für alle vorbereitet. In einigen hatte er eine Walnuss versteckt... Du würdest dich wundern, wie groß er geworden ist. Auch Ada denkt - nicht nur beim Essen - oft an dich. Letztens haben wir Blaubeer-Pfannekuchen gemacht. Ihr Kommentar: "Jesse hätte sich sicher ganz doll darüber gefreut!" Ich sehe dich immer noch grinsend und mit gezückter Gabel vor einem riesigen Stapel Blaubeer-Pfannekuchen an unserem Küchentresen sitzen...und es kommt mir vor wie gestern. Wenn ich einmal keine Lust hatte, welche zu backen, hast du dir einfach selbst welche zubereitet.  
 
Deine Liebe zu dieser Speise entwickelte sich 2008 in Florida. Du warst gerade einmal acht Jahre alt. Schon am Flughafen bei der Immigration haben wir herzhaft gelacht, als dich der nette Amerikaner bei der Einreise fragte, wie es dir gehe und du "Orlando" geantwortet hast, weil du kein Wort verstanden hast. Du hast behauptet, das läge nicht an deinen mangelnden Englischkenntnissen, sonderen einzig und allein daran, dass deine Ohren  nach dem Langstreckenflug komplett zu seien. Du warst noch nie um eine Ausrede verlegen. Morgens im "All-you-can-eat-Diner" in Orlando hast du dir zahlreiche Pancakes mit frischen Erdbeeren und gebratenem Speck auf den Teller gehäuft und über das ganze Gesicht gestrahlt. Da begann deine Pfannekuchen-Karriere. Nach dem Essen am späten Nachmittag haben wir uns Heiligabend wieder auf den Heimweg gemacht. Zuhause angekommen sorgte erst noch die Bescherung für Kurzweil, doch dann kippte meine Stimmung plötzlich. Ich hatte mir nur kurz vorgestellt, wie glücklich du  Weihnachten vor zwei Jahren beim Geschenkeauspacken geschaut hast - im Stubaital. Diese eine kleine Erinnerung war so schmerzhaft, dass von der vorher bereits gedämpften Weihnachtsfreude nicht mehr viel übrigblieb. Der erste und auch der zweite Weihnachtstag verliefen sehr ruhig und ich erholte mich emotional  ein wenig. Trotzdem war ich heilfroh, zwischen den Feiertagen wieder arbeiten gehen zu können. 
Nun sind wir gerade zur Familienkur im Allgäu und ich  habe die innere Ruhe und auch die Zeit, in deinem Blog zu schreiben. Über den Jahreswechsel ist zudem eine Idee gereift, die dich betrifft und die ich in 2017 endlich in die Tat umsetzen möchte. Eigentlich schwirrt dieser Gedanke schon länger in meinem Kopf herum, am Anfang ganz klein und unscheinbar und oftmals wieder in die hintersten Schubladen meines Denkens verdrängt, wenn ich zu kraftlos und überfordert war. Und doch hat es dieser Gedanke geschafft, sich aus den Tiefen meines Denkens hervorzuarbeiten und zu reifen. Es tut mir noch immer leid, dass wir für dich - ähnlich wie bei Vianne - kein Erinnerungsfest veranstaltet haben. Für mich fehlt da ein offizieller Abschluss - für uns, aber auch für all' deine Freunde und all' die Menschen, die dir nahestanden und nahestehen. Das möchte ich nachholen und zwar wahrscheinlich im März, bevor deine Freunde komplett in den Abiklausuren stecken. Später im Jahr möchte ich dieses Fest für dich nicht anbieten, weil ich Sorge habe, dass es viele deiner Schulkollegen dann bereits in die "große weite Welt" hinausgeszogen hat und sie nicht mehr vor Ort sind. Einen Abschluss finden heißt für mich nicht, dass du aus unseren Gedanken bist. Da wird niemals geschehen. Es ist eher ein symbolisches Abschiednehmen. 
Auch hier im Allgäu nehmen wir dich und Vianne mit - in die Skigebiete. Am Fellhorn haben wir gestern deinen (und Viannes) Namen in den Schnee geschrieben. Der Ort hätte dir gefallen - nichts als Weite und viel Weiß und Berge um dich herum. Das Wetter war so richtig nach deinem Geschmack. Dicke Flocken segelten auf 2000 Metern vom Himmel, es war bewölkt und streckenweise neblig (auch wenn man die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte hat dich das nie vom Fahren abgehalten), butterweicher Neuschnee und Möglichkeiten, abseits der Pisten zu fahren.

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