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Sonntag, 17. September 2017

Flaschenpost für dich

Die vergangenen Wochen haben mich die Bilder deiner letzten Lebenstage überfallen, weil mein Herz wusste, welcher Tag bald anstehen würde. Egal wo, egal wann: die Bilder füllten meinen Kopf, ob beim Einkaufen, während Klassenpflegschaftssitzungen, auf Autofahrten...  ich sehe dich stürzen, ich sehe dich sterben, obwohl ich keine der beiden Momente wirklich erlebt habe. Es sind aber auch reale Bilder und Empfindungen aus der Zeit zwischen dem 11. und 17. September 2015, die wie  Kometen mit voller Wucht auf mir einschlagen und tiefe Krater hinterlassen. Nach ihrem Aufprall ist mein Himmel so eingetrübt, dass  all die schönen Erinnerungen an dich nicht mehr durchscheinen können. Die dicke Staubwolke trägt die Polizisten mit sich, die gegen Mitternacht im September 2015 anklingeln, das Krankenhaus in Hamm, die Intensivstation, dieses schäbige Zimmer im Schwesternwohnheim, in dem wir geschlafen haben, den absolut bekloppten Seelsorger, der meinte, uns mit seinen Scheiß-Plattitüden zuschwafeln zu müssen und dem ich seine Scheiß-Phrasen am liebsten in seinen dämlichen Schlund gestopft hätte. Und die Wolke trägt dich. Ich sehe dich dort liegen, beatmet, mit Schwellungen im Gesicht, Aufschürfungen. Du fieberst. Dein Oberkörper ist hoch gelagert. Deine schweren Schädelverletzungen und deine sich ausbreitende Lungenentzündung ist nach außen hin kaum sichtbar. Es ist nach 20 Uhr. Gerade jetzt versuchen dich die Ärzte wiederzubeleben - eine Stunde lang. Du stirbst gleich. Ohne mich. Ich stehe draußen vor dieser verdammten Tür zur Intensivstation und sie lassen mich nicht ein, geben immer nur kurze Infos raus. Dieses linoleumschäbige Wartezimmer wird zum Käfig. Ich durfte nicht bei dir sein, als du gestorben bist - heute schreie ich vor Wut darüber. Ich hätte bei dir sein müssen, wie bei Vianne. Es ist brutal. Es ist unmenschlich. Dieser letzte Moment hätte uns gehören müssen.... Es macht mir so zu schaffen... Ich war nicht an deiner Seite...Ich war nicht da!
Es ist der 17.09.2017, genau 21 Uhr, während ich dir schreibe. Ich habe noch 9 Minuten mit dir, bevor ich in das dritte Jahr ohne dich gehe. Der Druck der vergangenen Wochen löst sich gerade etwas. Luke, Micha, Ada und ich haben heute bis zum Mittag ausgeschlafen und abgehangen. Micha und ich sind erst um 5 Uhr heute Morgen von einer Party nach Hause gekommen. Sehr gut! Ich will heute auch gar nicht fit und aktiv sein. Wir hatten uns im Vorfeld zum 3-D-Minigolf angemeldet, weil keiner von uns Lust hatte, sich heute ein blödes Stück Torte in Gedenken an dich hineinzuwürgen oder mit Trauermiene zum Friedhof zu stapfen. Deshalb haben wir im Neonlicht den Golfball eingelocht und hinterher chillig auf dem Fatboy gegenseitig mit leckeren Limonadenflaschen  angestoßen (eine ist natürlich halb auf dem Sitzsack ausgelaufen - du siehst, es ist "fast" wie immer). Die Geschacksrichtung "Melon" haben wir entführt und mit an die Ruhr genommen - und sie kurzerhand zur Flaschenpost umfunktioniert. Wir vier haben dir alle ein paar persönliche Worte auf ein Blatt geschrieben, das wir zum Glück noch nebst Kugelschreiber im Auto gefunden haben. Keiner durfte die Worte des anderen lesen. Sie sind nur für dich bestimmt, Jesse. Es war eine spontane Aktion. Das Blatt passte perfekt in die Flasche. Ada hat zum Schluss noch eine Blüte in die Flasche gegeben, ich etwas Birkenrinde (ich kann dir gar nicht sagen warum). Dann haben wir die Öffnung mit einem Ast verschlossen, den wir kurz zuvor gefunden hatten. Der Ast passte haargenau in die Flaschenöffnung - echt unglaublich. Wir haben die Flaschenpost noch kurz gemeinsam gehalten, bevor Luke sie in hohem Bogen in die Ruhr geschleudert hat. Lange haben wir ihr hinterhergeschaut. Viel Spaß beim Lesen, Großer!


Du fehlst jede Sekunde... uns allen!

Montag, 11. September 2017

Fortsetzung: Ähnlichkeit

Mit Erschrecken stelle ich fest, dass der letzte Post beinahe drei Monate zurückliegt und ich noch immer keine Fortsetzung geschrieben habe... 
29.11.2015: Es ist der 1. Advent - unsere erste Vorweihnachtszeit ohne dich - und ohne Vianne. Nach Viannes Tod schoss mir kurz der traurige Gedanke durch den Kopf, dass unser Familienadventskalender ohne sie nicht funktioniert, dass sich die 24 Tage bis Weihnachten nicht durch 5 Personen teilen lassen... Wie pervers... nur wenige Wochen später ließ sich der Familienkalender wieder teilen... durch uns 4. Wir füllen ihn aber nach wir vor jedes Jahr für sechs Familienmitglieder, denn ihr seid noch immer ganz nah bei uns. Ada stellt dir jedes Jahr deinen heißgeliebt-hässlichen, grünen, aufblasbaren Plastikweihnachtsbaum ins Zimmer und diese Geste rührt mich immer zutiefst. 
17.01.2016: Alles, was zum ersten Mal ohne dich geschieht, ist unglaublich schwer. Wir machen uns mit Ada und Luke auf nach Altastenberg zum Ski- und Snowboardfahren. Es ist schrecklich, dass du nicht an Lukes Seite boardest und ihm keine Sprünge und Tricks mehr beibringen kann. Du wärest stolz auf ihn gewesen. Es ist schrecklich in die Nähe des Ortes zu fahren, wo du verunglückt bist. Aber es ist auch gut und heilsam, weil wir dir beim Snowboardfahren nah sein können. 
24.01.2016: Der Schmerz ist ein allgegenwärtiger Begleiter, so stark, so präsent in den letzten Wochen. Luke möchte nachts bei uns schlafen - Adas Nähe reicht ihm nicht mehr. Er hat wiederkehrende Alpträume - er sieht, wie du stürzt... vom Balkon. Immer und immer wieder. "Ich vermisse ihn!", sagt er uns mit Tränen in den Augen. Ja, er vermisst dich schrecklich. Luke erzählt uns, wieviel 'Mist' ihr zusammen gemacht habt, und muss dabei schon wieder schmunzeln. "Wenn mir langweilig war, bin ich immer zu Jesse gegangen...", erinnert er sich. An diesem Tag stehe ich an einer Weggabelung: Welches Leben werde ich wählen? Das Leben, in dem ich funktioniere - oder das Leben, in dem ich lebe?
17.03.2016: Ich war heute am MGI (Märkisches Gymnasium Iserlohn), an deinem Gymnasium, das auch dein Bruder besucht. Es ist so befremdlich und du bist so allgegenwärtig, obwohl es bei diesem Termin um Luke geht. Es ist alles so verwoben. Ich sehe dich auf dem Schulhof... ich stehe deiner Bio-LK-Lehrerin gegenüber, die zugleich Lukes Klassenlehrerin ist. Vor gut einem halben Jahr war ich zu deiner Stufenpflegschaftssitzung hier...
Juni 2016: Luke hat nur einen Wunsch: "Ich möchte Jesse nur noch ein einziges Mal richtig sehen dürfen." Ich kann deinem Bruder diesen Wunsch nicht erfüllen. Lukes Schmerz ist mein Schmerz. 
Sommer 2016: Im ersten Halbjahr 2016 spricht Luke uns zögerlich darauf an, ob er in dein Zimmer ziehen dürfe. Ich finde es gut, dass er fragt, fühle mich andererseits in diesem Moment wie von einer dicken Watteschicht umhüllt, durch die nur dumpf die Worte dringen. Wir fragen ihn in den kommenden Wochen wiederholt, ob er das wirklich wolle, hinterfragen, ob es ihm wirklich gut tun würde. Aber er bleibt beharrlich und zeigt uns, dass es ihm sehr wichtig ist. "Ich fühle mich Jesse dort nah", erklärt er mit einer Reife in der Stimme, die mich schier sprachlos macht. Er hat so recht. Ich möchte aus deinem Zimmer keinen Schrein machen. Es muss wieder mit Leben gefüllt werden und ich bin mir sicher, dass du dir dort niemand anderen als Luke vorstellen kannst. Andererseits habe ich so eine Angst vor dem Schmerz, der mich überrollen wird, wenn wir deine Sachen zusammenpacken - dein Leben einpacken. Wir bitten Luke noch um etwas Zeit, bevor wir den Zimmertausch (und die Renovierungsarbeiten) angehen, weil ich noch nicht so weit bin. Er ist so verständnisvoll und geduldig. Ich bin ihm absolut dankbar, dass er letztendlich den Anstoß gegeben hat. Im Sommer 2016 haben wir es geschafft, dein Zimmer auszuräumen, deine persönlichen Dinge, deine Kleider zusammenzupacken. Es war ein intimer Moment, es war ein zerreißender Moment. 15 Jahre Leben auf Kartons verteilt - liebevolle, schmerzhafte Erinnerungsstücke. Wir sehen dich nach wie vor in deinem Zimmer, aber das Zimmer hat ebenso eine besondere Luke-Note erhalten. Er ist dir so ähnlich, dein Bruder, und doch so wohltuend einzigartig. Er schläft seitdem übrigens wieder sehr gut. Es war die richtige Entscheidung.