Die vergangenen Wochen haben mich die Bilder deiner letzten Lebenstage überfallen, weil mein Herz wusste, welcher Tag bald anstehen würde. Egal wo, egal wann: die Bilder füllten meinen Kopf, ob beim Einkaufen, während Klassenpflegschaftssitzungen, auf Autofahrten... ich sehe dich stürzen, ich sehe dich sterben, obwohl ich keine der beiden Momente wirklich erlebt habe. Es sind aber auch reale Bilder und Empfindungen aus der Zeit zwischen dem 11. und 17. September 2015, die wie Kometen mit voller Wucht auf mir einschlagen und tiefe Krater hinterlassen. Nach ihrem Aufprall ist mein Himmel so eingetrübt, dass all die schönen Erinnerungen an dich nicht mehr durchscheinen können. Die dicke Staubwolke trägt die Polizisten mit sich, die gegen Mitternacht im September 2015 anklingeln, das Krankenhaus in Hamm, die Intensivstation, dieses schäbige Zimmer im Schwesternwohnheim, in dem wir geschlafen haben, den absolut bekloppten Seelsorger, der meinte, uns mit seinen Scheiß-Plattitüden zuschwafeln zu müssen und dem ich seine Scheiß-Phrasen am liebsten in seinen dämlichen Schlund gestopft hätte. Und die Wolke trägt dich. Ich sehe dich dort liegen, beatmet, mit Schwellungen im Gesicht, Aufschürfungen. Du fieberst. Dein Oberkörper ist hoch gelagert. Deine schweren Schädelverletzungen und deine sich ausbreitende Lungenentzündung ist nach außen hin kaum sichtbar. Es ist nach 20 Uhr. Gerade jetzt versuchen dich die Ärzte wiederzubeleben - eine Stunde lang. Du stirbst gleich. Ohne mich. Ich stehe draußen vor dieser verdammten Tür zur Intensivstation und sie lassen mich nicht ein, geben immer nur kurze Infos raus. Dieses linoleumschäbige Wartezimmer wird zum Käfig. Ich durfte nicht bei dir sein, als du gestorben bist - heute schreie ich vor Wut darüber. Ich hätte bei dir sein müssen, wie bei Vianne. Es ist brutal. Es ist unmenschlich. Dieser letzte Moment hätte uns gehören müssen.... Es macht mir so zu schaffen... Ich war nicht an deiner Seite...Ich war nicht da!
Es ist der 17.09.2017, genau 21 Uhr, während ich dir schreibe. Ich habe noch 9 Minuten mit dir, bevor ich in das dritte Jahr ohne dich gehe. Der Druck der vergangenen Wochen löst sich gerade etwas. Luke, Micha, Ada und ich haben heute bis zum Mittag ausgeschlafen und abgehangen. Micha und ich sind erst um 5 Uhr heute Morgen von einer Party nach Hause gekommen. Sehr gut! Ich will heute auch gar nicht fit und aktiv sein. Wir hatten uns im Vorfeld zum 3-D-Minigolf angemeldet, weil keiner von uns Lust hatte, sich heute ein blödes Stück Torte in Gedenken an dich hineinzuwürgen oder mit Trauermiene zum Friedhof zu stapfen. Deshalb haben wir im Neonlicht den Golfball eingelocht und hinterher chillig auf dem Fatboy gegenseitig mit leckeren Limonadenflaschen angestoßen (eine ist natürlich halb auf dem Sitzsack ausgelaufen - du siehst, es ist "fast" wie immer). Die Geschacksrichtung "Melon" haben wir entführt und mit an die Ruhr genommen - und sie kurzerhand zur Flaschenpost umfunktioniert. Wir vier haben dir alle ein paar persönliche Worte auf ein Blatt geschrieben, das wir zum Glück noch nebst Kugelschreiber im Auto gefunden haben. Keiner durfte die Worte des anderen lesen. Sie sind nur für dich bestimmt, Jesse. Es war eine spontane Aktion. Das Blatt passte perfekt in die Flasche. Ada hat zum Schluss noch eine Blüte in die Flasche gegeben, ich etwas Birkenrinde (ich kann dir gar nicht sagen warum). Dann haben wir die Öffnung mit einem Ast verschlossen, den wir kurz zuvor gefunden hatten. Der Ast passte haargenau in die Flaschenöffnung - echt unglaublich. Wir haben die Flaschenpost noch kurz gemeinsam gehalten, bevor Luke sie in hohem Bogen in die Ruhr geschleudert hat. Lange haben wir ihr hinterhergeschaut. Viel Spaß beim Lesen, Großer!
Du fehlst jede Sekunde... uns allen!
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