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Samstag, 21. Dezember 2019

Möpse, ha ha

Ich sitze in deinem Zimmer, das nun Lukes Zimmer ist... Ich könnte mir keinen geeigneteren Menschen hier, in diesem Zimmer,  vorstellen. Luke ist großartig. Hier, in diesem Zimmer,  habe ich vier Jahr zuvor schreiend auf dem nackten Boden gelegen, dein T-Shirt, das noch deinen Duft getragen hat, eng an meine Nase gepresst, außer mir vor Schmerz. Ich habe dich eingeamtmet, wieder und wieder. Ich bin unsagbar traurig, ein Stück weit meiner Selbst beraubt, ja, aber auch dankbar, denn du hast mir noch einmal deutlich gemacht, was lieben heißt, Jesse. Die Liebe zu dir und Vianne, zu Luke und Ada ist so tief und durchdringend, dass Worte ihrer kaum gerecht werden. Und trotz aller Trauer und Sehnsucht bin ich so demütig ergriffen, dass ich diese Liebe in mir entdecken und spüren darf, dass ich zuversichtlich in die Zukunft blicke. Ich werde dich immer vermissen, und der Moment, als du auf den kalten Waschbetonplatten aufgeschlagen bist, wird mein Herz wieder und wieder zerfetzen, aber dennoch bin ich dankbar, dass du in mein Leben getreten bist. Dass du mich ausgesucht hast... Mensch Jesse, verdammt, irgendwann werden unsere Seelen vor Freude hüpfen, wenn wir uns wieder begegnen. Ich werde dich überall wiedererkennen. Ich kann es kaum erwarten, dich einzuatmen. Du lebst in mir und mit mir, in Luke und Ada und Micha und bei Vianne. Weißt du eigentlich, welch ein wunderbares Geschenk uns Luke in den Familienadventskalender gepackt hat? Erinnerst du dich an deinen Rucksack (Luke trägt ihn voller Liebe zu dir). Dort hattest du plattgedrückte Dosenverschlüsse angehängt. Luke hat für Vianne und mich diese Verschlüsse gefertigt.
 
 Du wärest so stolz auf deinen kleinen Bruder. Er hat solch einen Charme! Und weißt du was? Er mag "Möpse" (die Hunderasse!!!) ebenso sehr wie du. Haha. Erst letztens beim gemeinsamen Minigolfspiel hat er mir davon erzählt, als ein Hundehalter mit der entsprechenden Rasse vorbeikam. Ich habe mich scheckig gelacht.
Jesse, ich giere danach aufzubrechen. Ich giere danach, auszusteigen und unsere Reise Richtung Thailand und Australien anzutreten - und habe zugleich etwas Angst davor, dass ich nicht das finden werde, dass ich zu hoffen erwäge. Hier zu bleiben ist keine Option. Ich muss weg! Sei bei uns!


Samstag, 19. Oktober 2019

"Wie gerne..."


"Wie gerne würde ich dich zurück auf die Erde holen, 
um einfach nur dich zu sehen, dich zu umarmen 
und  noch einmal dich zu erleben. Und dann denke ich, dass du nun oben im Himmel bist.
Ich wollte dir nur sagen:
Ich denke jeden Tag an dich. 
Es gibt so viel, was mich an dich erinnert.
Wenn wunderschöne Momente passieren 
oder wenn etwas Außergewöhniches passiert, 
schaue ich in den Himmel und suche nach einem Lächeln
im Himmel von dir.
Du bist der beste Bruder der Welt. 
Alles Gute zum Geburtstag. 
Ich hoffe, es geht dir sehr gut. Und du genießt deinen Geburtstag.
Du fehltst mir!"

Deine Ada



Bei dir!

Ich bin da. Wir alle sind da, um deinen Geburtstag zu feiern, mein Großer. Wobei "feiern" nicht das richtige Wort zu sein scheint. Jeder von uns ist dem heutigen Tag anders begegnet- und das ist auch gut, gesund und richtig so. Ich war nicht an deinem Grab. Ich habe mir keine Zeit dazu gelassen. Seltsam. Ich habe meinen Tag vollgeschaufelt, wahrscheinlich um ihn auszuhalten. Und dabei fehlt mir jetzt die Zeit mit dir. Aber ich konnte mich ihr anscheinend nur dosiert stellen. Weil ich dich so unglaublich liebe und vermisse. So sehr, dass ich meinen Herzschmerz heute körperlich spüren konnte. Ich habe heute bis zum Mittag gearbeitet, auch wenn ich dabei ein schlechtes Gewissen hatte. Auf der Hin-und auf der Rückfahrt habe ich schreiend und weinend im Auto gesessen, die Musik voll aufgedreht. Dazwischen habe ich gut funktioniert. Mir war nur eines heute auf der Rückfahrt wichtig: dich irgendwo zu sehen, irgendein Zeichen von dir zu erspähen. Vielleicht einen Regenbogen? Bereits auf dem Weg von meinem Arbeitsplatz zum geparkten Auto öffnete der Himmel seine Schleusen und ein Platzregen und heftige Windböen peitschten um mich herum. Ja, so ist's Recht. Die Naturgewalten werden deinem Verlust gerecht, als ob die Elemente wüssten, was für eine Scheiße da passiert ist. Danach wollte ich nur noch rechtzeitig zu Hause sein, um mit Luke und Ada deine Lieblings-Pancakes zu backen. Die Zeit war hier ebenso knapp bemessen, da Ada bereits um 14 Uhr einen Impftermin hatte. Mist, Blaubeeren hatten wir keine mehr, meine Idee kam wieder zu spontan und ungeplant, erst am Abend zuvor war sie gereift, und ich hatte mal wieder keine Zeit, diese kleinen, lilablauen schmackhaften Beeren noch rechtzeitig zu besorgen.  Aber es hat geklappt. Wir haben mit Himbeeren und Äpfeln improvisiert. Luke, Ada und ich haben uns ins Zeug gelegt. Und es tat gut. Ich hatte dich dabei die ganze Zeit vor Augen, wie du zufrieden über einem Turm von Blaubeer-Pfannkuchen an unserer Küchentheke sitzt, ertränkt in einem Meer aus Ahornsirup. 
Luke feiert deinen Geburtstag nicht mit kleinen Geschenken oder Aufmerksamkeiten: Er drückt seine Liebe zu dir aus, indem er mich liebevoll in die Arme nimmt und seiner kleinen Schwester mit liebevoll-humorigen Äußerungen die Tränen trocknet.
Ada hat dir diesen wundervollen Brief abends zuvor geschrieben. Er spricht für sich und besteht aus purer Liebe und Zuversicht. 
Micha trägt dich ständig so nah bei sich, nach außen unsichtbar, und doch so präsent.. Er geht deinen Geburtstag mit leiser, inniger Verbundenheit zu dir an.
Ich feiere dich, indem ich vor Schmerz heule, Pancakes futtere, dich dabei bildlich vor Augen habe, einer lieben Freundin von dir erzähle, und lächelnd an deinen Geburtstag vor 20 Jahren denke. Du hast nachts gegen 2 Uhr unsere Welt betreten, mit der Hand an der Stirn, wie ein kleiner Denker. 
 
Vom ersten Moment an hast du deinen Abdruck hinterlassen und mein Herz erobert, meine Seele und meinen Geist berührt. Kurze Zeit später habe ich dir diese Worte zugeflüstert: "Mein Herz zu deinem Herz. Meine Seele zu deiner Seele." Du bist mir von der ersten Sekunde an so vertraut gewesen, ich habe mich dir absolut verbunden gefühlt. 
 
Keine Spur von Unsicherheit, obwohl du mein Erstgeborener warst. Irritiert kamen die Krankenschwestern kurz nach deiner Geburt andauernd in unser Zimmer, um ihre Hilfe anzubieten. Ich musste nur grinsen und habe ihnen mehrmals versichern müssen, dass alles bestens sei und wir zwei keine Hilfe benötigten, was sie zwar sehen, aber nicht glauben konnten. Ganz schnell haben wir das Krankenhaus verlassen, um uns in Ruhe kennenlernen zu können. 

Happy Birthday, Jesse. Hoffentlich gibt es in deiner Welt Blaubeer-Pancakes...




Freitag, 27. September 2019

Ich packe meinen Rucksack...und nehme dich mit

Heute gehen wir es 'mal von der anderen Seite an, Jesse. Wir durften dich fast 16 Jahre lang erleben, durften an deinen Gedanken und Sprüchen, an deinen Skateboard-Tricks und deiner Ironie teilhaben, durften dich fühlen, sehen, riechen (was hinsichtlich deiner Socken eine wahre Herausforderung war)wir durften dir zuhören (und manchmal weghören), dich anmeckern und gemeinsam mit dir lachen und weinen. Was für ein Geschenk du doch bist! Noch immer bin ich absolut fasziniert von dir und voller Liebe für dich. Und ebendiese tiefe Liebe zu dir lässt mich dich so schmerzhaft vermissen. Du bist vor wenigen Tagen wieder gestorben. Das 5. Mal. Wird es leichter? Niemals. An deinem Todestag habe ich mich in meiner Arbeit vergraben, mich zugeschaufelt und kaum einen gedanklichen Atemzug Luft gehabt, den Schmerz zu spüren. Numb! Eine äußerst legale Bewältigungsstrategie in Zeiten der Kurzatmigkeit. Keine Sorge - ich kann wieder Durchatmen. Ada, Luke und Micha haben ebenfalls nichts Besonderes für dich gemacht. Sei ihnen nicht böse. Sie leben. Sie denken an dich. Sie vermissen dich. Und sie hatten in diesem Jahr kein nach außen sichtbares Zeichen für dich. Aber sie lieben dich von Herzen und vermissen dich ebenso wie ich - da kannst du dir so was von sicher sein. Nicht nur der Tag, an dem du deinen letzten künstlich erzeugten Atemzug vor vier Jahren getan hast, ist schlimm: es ist die gesamte Zeit zwischen deinem Sturz und deinem Tod. Mittendrin in diesen herausfordernden Tagen war ich in diesem Jahr in Hamburg mit meinen "Liebesperlen". Es war gut. Es war ablenkend. Und ich war so dermaßen erschöpft - schon im Vorfeld. Die beiden Organisatorinnen hatten sich eine coole Tour ausgedacht. Mit Aufenthalt im Astra-Laden. Astra! Scheiße. Sie konnten schließlich nicht ahnen, dass mir beim Betreten des Lokals die Luft wegblieb. Ich konnte nicht aufhören, zahlreiche Fotos vom Interieur und den Bierpullen zu schießen, damit ich sie dir schenken kann. Jesse - Astra -  Lieblingsbier -. Kronkorken - unbeschwerte Partys inmitten deiner Freunde.... Inmitten des Lokals überrannten mich meine Gefühle. Zum Glück gibt es Schoofi. Sie schleifte mich kurzerhand mit aufs Damenklo, wo ich mich geballt heftig ausheulte. Danach war es gut, abgesehen von den hämmernden Kopfschmerzen, die mich die restliche Nacht begleiteten.








Gerade eben habe ich deine erste Deutsch-Klassenarbeit aus der 5. Klasse gemeinsam mit Ada gelesen. Ein Brief. Ada fand es ganz spannend, in deinen alten Arbeiten zu schmökern und sich "Tipps" zu holen, insbesondere da sie deine ehemalige Deutschlehrerin bekommen hat. In deiner 2. Arbeit musstest du eine spannende Geschichte schreiben. Ada hat sie richtiggehend verschlungen. "Mama, was bedeutet 'gellender Schrei'?", fragte sie mich. Ich erklärte es ihr. Sie war beeindruckt. Jesse! Schon damals hattest du einen ausgesprochen ausgeprägten Wortschatz. Wer benutzt bitteschön heute noch dieses treffende Adjektiv? Umso empörter kommentierte sie deine Note - eine 2-, eigentlich recht passabel, wie ich finde. Okay: du hattest "kam" mit "h" geschrieben und noch einige weitere, im Nachgang witzige Rechtschreibfehler eingebaut, aber ansonsten muss ich Ada zustimmen: "Die Geschichte ist klasse!!, ereiferte sich deine kleine Schwester. "Ich hätte ihm dafür eine 1 gegeben", sagte sie mit einer Mischung aus Empörung, Trotz und Bewunderung.  

Jesse! Ich will mich nicht im Gestern verlieren. Du würdest mir einen so fetten, vor Ironie triefenden Tritt in den Hintern geben, wenn ich es machen würde (und ups - es passiert leider doch zu oft). Ich liebe das Hier und Jetzt. Pur. Intensiv. Für dich. Ich sauge die Welt auf für dich und für Vianne und will präsent sein für Ada, Luke und Micha. Wir vier machen uns auf den Weg und packen unseren Rucksack. Wir gehen weg, um zurückzukehren. Wir gehen weg, um deine Geschwister, uns, dich und Vianne noch intensiver zu erleben. Wir haben so viele Fragen. Ich glaube, nur die Natur, ihre Gesetze und die Naturvölker können uns innerlich zur Ruhe kommen lassen. Ich habe dir damals auf Sylt in Gedanken versprochen, dass wir die Welt für dich erkunden. Wir sind ganz nah dran: Micha, Luke, Ada und ich nehmen Vianne und dich für mehrere Monate mit nach Thailand und Australien - und zum krönenden Abschluss zum Ski- und Snowboardfahren in die Berge.. 


Du wolltest nicht nur die Welt bereisen, sondern auch in brisantere Gebiete vordringen (u.a. nach Afghanistan), um dir ein eigenes Bild von der Lage vor Ort zu machen... Unsere Zustimmung dazu hattest du nicht. Auch für die Antifa-Demo, auf die du mit gerade einmal 15 Jahren alleine mit deinen Freunden gehen wollest, warst du uns noch zu jung. Hätten wir geahnt, dass du nie auf eine Demo gehen wirst... ich weiß nicht, wie ich mich entschieden hätte. Das steht jedenfalls auch noch auf meiner "to do" Liste... Warten liegt mir nicht und ist manchmal auch fatal. Deshalb brechen wir genau jetzt auf - wir sind keine Freunde davon, Dinge langfristig zu planen. Die Rahmenbedingungen passen gerade. Die Schule und unsere Arbeitgeber haben zugestimmt. Also hält uns nichts mehr  und wir spüren eine erfrischende Abenteuerlust. Nach anfänglicher Skepsis freuen sich Ada und Luke nun auch auf diese Reise: Du weißt ja: "Abenteuer beginnen, wo Pläne enden..." Ich habe keinen Plan wie es weitergehen soll. Ich weiß nur, dass es weitergeht und dass es gut so ist. 
PS: Dein Bruder fliegt zur Skifahrt extra für eine Woche zurück. An wen erinnert mich diese Begeisterung für die Skifahrt mit der EF nur...? Fly high! Liebe dich!

Dienstag, 20. August 2019

Wachsen

Deine Geschwister, deine Freunde, sie alle gehen weiter, probieren sich aus, scheitern hin und wieder und rappeln sich mutig wieder auf. Es ist wunderbar, sie ein Stück beim Wachsen begleiten zu dürfen, zu sehen, welche Richtung sie einschlagen und wieder verlassen, wie sie sich an Unbekanntes herantrauen und die Welt erkunden. Da wird ein Studiengang gewechselt, dort ein Auslandssemester eingelegt, hier beharrlich versucht, eine Prüfung zu bestehen und dort drüben ein Tauchkurs absolviert und eine große Reise geplant. Es ist wunderbar, dass wir so nah an deinen Freunden dran sein dürfen, dass sie dich und uns auch nach vier Jahren an ihrem Leben teilhaben lassen. Du lebst für uns durch sie weiter. Was für ein Geschenk! Ich bin so stolz auf dich und deine Freunde. Nicht jeder findet so wunderbare treue Weggefährten, wie du sie schon in jungen Jahren um dich hattest: eine Mischung aus Tiefsinnigkeit, Herz, Revolution, Humor, Mut, Wissenshunger und Lebensdurst. Wie gerne hätte ich auch dich wachsen sehen, Jesse. Wo stündest du heute? Welcher Studiengang hätte sich an dir erfreuen dürfen, welchem Prof. hättest du herausfordernd-ironisch-charmant auf die Palme getrieben? Wo wärest du in der Welt gelandet? Wo hättest du Halt gemacht, wo wärest du gestrauchelt? 
Erst gestern habe ich ein Foto von Ada und der kleinen Ilvi gemacht. Ada ist nun so alt wie du, als du sie und Vianne das erste Mal in deinen Armen gehalten hast... ganz vorsichtig, noch etwas unsicher, aber sehr behutsam und liebevoll. Sie beide haben dich immer als ihren großen "Beschützer" angesehen, der sie gleichzeitig zum Kichern bringt und wild durch die Küche wirbelt. Du fehlst...

Ich sehe dich mit elf Jahren nach deinem Training schmunzelnd durch den Garten zur Terrassentür kommen, den Fahrradhelm noch auf dem Kopf und den Tennisschläger in der Hand, liebevoll-schelmisch grinsend. Die Zwillinge, gerade mal ein Jahr alt, wanken dir begeistert entgegen und wir müssen beide Acht geben, dass sie nicht in den Garten und auf Nimmerwiedersehen entwischen. Und auch Luke konnte es damals oftmals kaum erwarten, dass du zurück warst und mit ihm gemeinsam ein paar Legosachen aufgebaut hast. Wir alle vermissen dich auf unsere ganz eigene Art. 
Erst vor einigen Tagen schlug eine intensive "Jesse-Schmerzwelle" über mir zusammen, aus heiterem Himmel. Ohne Schirm oder Unterstand platschte meine Sehnsucht nach dir einfach ungeschützt auf mich hernieder und rann in kleinen Rinnsalen an mir herab. Das Vermissen war überwältigend, beinahe wie in den ersten Monaten nach deinem Tod. Bitte lass uns nur noch ein einziges Mal am Küchentresen hitzig-schmunzelnd debattieren, bitte wirbele Ada nur noch ein Mal um die eigene Achse, bitte stupse Luke nur noch ein Mal schmunzelnd an... 
Verdammt, es gibt sogar noch deinen Facebook-Account, wo du verschiedene Dinge geliked hast: Snowboard-und Skateboard-Clips, Musik, Gruppen...  Und dann diese Parallelen, die schön und erschreckend in einem sind. Ada bekommt deine ehemalige Klassenlehrerin, die dich durch die Unterstufe begleitet hat. Luke wurde erst letztens von einem Lehrer und später auch noch von mir versehentlich mit "Jesse" angesprochen. Es tat ihm weh und mir unsagbar leid. Er sieht dir ähnlich, hat aber auch etwas ganz Eigenes. Er ist anders als du, und dir doch in manchen Dingen und Interessen so gleich: Antifa, fit X, tolle Freunde... Er freut sich wahnsinnig auf die Skifahrt mit der Oberstufe. Du, der große Bruder,  fehlst ihm so sehr. Er hätte deinen brüderlichen Rat ein ums andere Mal gut gebrauchen können. Manchmal muss er dich verdrängen, um da sein zu können. Ada spricht offen von dir. Erst gerade kam sie zu mir und meinte schmunzelnd, dass sie die Hochlandrinder auf der Wiese gegenüber gefüttert hätte: "Also, der Große ist Papa, die zwei die sich so ähnlich sehen, also die 'Bullengeschwister', nenne ich Jesse und Luke, und die Kleine heißt Greta." Ada ist zauberhaft. Ich genieße die wilden Ausflüge über die Felder mit ihr. Sie ist und bleibt ein Wildfang. Luke und du werdet gut auf sie Acht geben müssen...


Dienstag, 4. Juni 2019

Berlin

Jesse, wir wollten nur allein mit dir nach Berlin: 2014. Es war alles geplant, nur Viannes Rezidiv nicht... Wie verständig und selbstverständlich du es akzeptiert hast, dass wir nicht fahren konnten. Jetzt haben wir die Reise nach Berlin gemacht mit dir und Opa im Herzen. Oh, wie hätte dir diese pulsierende kreaktive Stadt gefallen....so viel Leben abseits der Norm, ein Energieboost, alternativ und schnoddrig gegen lieblich und sympathisch, und dabei eine Metropole mit all ihren düsteren Seiten - und ganz viel grün. Wer hätte das gedacht: Berlin ist grün! Wieland, unser Fahrrad-Guide, hat uns die versteckten Ecken gezeigt - und natürlich die Highlights. Und ein Besuch von Andrés Lieblings-Currywurstbude durfte natürlich auch nicht fehlen. Eigentlich hatten wir nur eine dreieinhalb Stunden Privattour gebucht. Aber irgendwie waren Wieland - ein waschechter Berliner Jung, der im Osten großgeworden ist und mit 20 Jahren den Mauerfall hautnah miterlebt hat - und wir auf einer Wellenlänge, so dass wir locker-flockige siebeneinhalb Stunden mit dem Rad Berlin erFAHREN haben. Danke Wieland! Du konntest Ada und Luke gut erreichen und hast die Dinge auch sozialkritisch beleuchtet. Anschließend haben wir bestens in einem afrikanischen Restaurant gespeist. Wieland hatte Recht: man kann sich in Berlin einmal um die ganze Welt fressen.

Unsere Unterkunft: Gästehaus der Familie Adlon

 - Potsdam
früher


direkt am Lehnitzsee/ Potsdam

mitten in Berlin












 
Ich weiß, dass dir Berlin gefallen hätte, Jesse. Ich war das letzte Mal Mitte der 80er Jahre zum Deutschen Turnfest dort, zu Zeiten, als Berlin noch eine geteilte Stadt war. In späteren Jahren habe ich immer behauptet, dass mich Berlin absolut überfordern würde und ich im Gegensatz zu so vielen anderen fest davon überzeugt bin, dass Berlin mich nicht packen könnte. Ich dachte immer, ich wäre mehr "München". Deshalb bin ich mit einer gehörigen Portion Respekt im Gepäck Richtung Berlin aufgebrochen. Und was macht Berlin mit mir? Es erstaunt mich, es begeistert mich mit seiner Buntheit und Schäbigkeit, es wirkt wie ein Kunstwerk mit schrecklich verrutschten Pinselstrichen auf mich, das man wegen seiner Andersanrtigkeit und Unverfälschtheit einfach nur lieben muss. Ich bin verliebt... in Berlin... immer in dem Wissen, Jesse, dass du ebenso begeistert gewesen wärest. Lebendig habe ich mich dort gefühlt, mein Großer. In meinen Sehnsuchtsbildern sehe ich uns beide nebeneinander am Spreeufer hocken und heiß debattieren, wobei du mich mit einer gehörigen Portion Ironie überschüttest, die ich so sehr an dir liebe. Ich sehe uns auf einem alten Wehrturm stehen und inbrünstig und sozialkritisch diskutieren, bis die verbalen Fetzen fliegen. In Berlin habe ich mich so wahnsinnig lebendig gefühlt, wie schon lange nicht mehr. Vielleicht weil diese Stadt ebenso schön kaputt ist wie ich und trotzdem handlungs- und beschlussfähig?  Kannst du eigentlich annähernd ermessen, wie sehr mir der Austausch mit dir fehlt???? Noch immer muss ich dich und deinen Tod aus meinem Leben verdrängen, um auch nur ansatzweise leben zu können. Ich bin bei dir noch lange nicht so weit. Du bist für mich Feingeist, Revoluzzer, Herz und Chaos in Einem.
Vor einem halben Jahr, bei der Auswahl von Adas weiterführender Schule, habe ich den Infoabend eines Schwerter Gymnasiums besucht. Eine Oberstüfenschülerin stand auf der Bühne und hat gesungen. Ich war wie paralysiert. Sofort hatte ich den 11. September 2015 im Kopf. Du bist nachmittags zur Tennisfahrt aufgebrochen, während ich mit Luke und Ada das MGI-Fest besucht habe: Tao hat gesungen, während du deine letzten Stunden bei Bewusstsein verbracht hast. Danach bist du nie wieder aufgewacht... Inmitten der eifrigen zukünftigen Fünftklässler-Elternschaft rannen mir stille Tränen über mein Gesicht.
Erst heute Morgen, auf der Fahrt Richtung Essen, fühlte sich dein Verlust wieder so unwirklich an - nach vier Jahren! Noch immer erfasst das Herz nicht, was der Geist schon lange weiß. Gestern Abend habe ich dich das erste Mal auf einem Video entdeckt, das ich von Vianne gemacht habe. Ich hatte mir dieses Video zuvor schon etliche Male angeschaut, doch entdecken durfte ich dich erst gestern. Du hast dich im Hintergrund bewegt. Es ist schön, dass du hin und wieder auftauchst, wenn ich mich am Stärksten nach dir sehne und dich am Wenigsten erwarte. Bis bald!

Montag, 18. März 2019

Dejà vu

Wieder einmal stehe ich auf der Intensivstation, Geräte piepsen und surren, Monitore zeigen Kurven und Zahlen. Infusionsschläuche und Kabel überall, Schwestern und Pfleger eilen durch den Hauptgang und schwenken rechts und links in die Zimmer ein, Angehörige warten besorgt-geduldig im Vorraum mit Bitte auf Einlass. Es riecht überall nach Desinfektionsmitteln und einem Hauch Urin, es riecht nach Mensch, nicht überdeckt von Parfümdüften und Rasierwasser, sondern unverfälscht nach Mensch in all seiner Geruchsvielfalt. Mein Blick hängt an der Sauerstoffsättigung. Ich muss mich zwingen, nicht ständig auf die Werte zu starren, sondern den Blick auf den vertrauten Menschen vor mir im Bett zu richten, dessen Brustkorb  künstlich von der Beatmungsmaschine aufgepumpt wird, und wieder in sich zusammenfällt - auf und nieder, im elenden gleichbleibenden stoischen Rhythmus. Doch nicht du liegst dort, sondern dein Opa - ebenfalls mit einer schweren Lungenentzündung. Welch Perversion des Schicksals... Ich muss mehrmals blinzeln, um einen klaren Blick zu bekommen, denn im ersten Moment sehe ich dich dort liegen, die Erinnerung vermischt sich mit der Realität, die Bilder switchen hin und her und verweben sich zu einem filigranen Teppich aus Vergangenheit und Gegenwart. Ich muss schlucken, während mich kurzzeitig eine tiefe Verzweiflung überfällt. Es wiederholt sich. Ich muss gut auf mich Acht geben, um keine Re-Traumatisierung auszulösen. Doch nach einiger Zeit kann ich beides gut trennen, denn auch wenn vor mir ein weiterer geliebter Mensch im Sterben liegt, so ist es dieses Mal anders. Auch wenn ich mir noch weitere Lebensjahre mit meinem Papa gewünscht hätte, in denen ich noch so viel von ihm hätte abschauen können, so fällt mir der Abschied zwar nicht leicht, aber etwas leichter, denn dieser Mensch durfte - im Gegensatz zu dir - sein Leben leben - in ganzer Bandbreite. Ich stelle mir gerade vor, wie ihr beide nun wieder zusammen Schach spielen könnt - ein schönes Bild. Erst letztens hat Luke seinen Opa das 1. Mal im Schachspiel geschlagen - und das will schon etwas heißen. 



Die feinen Verästelungen zwischen deinen Geschwistern und dir bestehen weiterhin: Ada folgt im Sommer ans MGI, Luke schnappt sich zwischendurch dein Skateboard (mittlerweile kann ich es zulassen)  und versucht sich an diversen Tricks. Beide, Ada und Luke, fahren im Mai gemeinsam auf Kolping-Pfingstfreizeit. Du warst Lukes Fundament, das so gnadenlos weggebrochen ist. Aber er geht seinen Weg - er ist stark, auch wenn er sich ohne dich irgendwie haltlos fühlt. Ich kann ihn so gut verstehen. Auf meine Frage, was er am meisten an dir vermisst, antwortet er: "Einfach Jesse, alles an ihm!". Einfach dich, Jesse, in deiner ganzen Persönblichkeit! 
Erst vor wenigen Monaten hat mir Johanna das kaputte Kettenglied von dem Mountainbike geschenkt, mit dem du vom Monte Baldo abgefahren bist. Ich hatte es immer im Münzfach meines Portemonnaies bei mir getragen. Mit Schrecken musste ich kürzlich feststellen, dass ich es verloren habe. Scheiße. Es ist nur ein Kettenglied - und doch ist es so viel für mich. Ich könnte mich in den Hintern beißen, denn ich meine noch gehört zu haben, wie irgendetwas beim Öffnen des Münzfaches auf den Boden gefallen ist, ich aber mal wieder in Eile gewesen und davon ausgegangen war, dass es sich lediglich um ein Cent-Stück gehandelt hätte und ich deswegen nur kurz halbherzig auf dem Boden nachgesehen habe. Dieses Abhetzen durchs Leben ist nicht gut und muss aufhören. 
In unserem Alltag bist du noch immer präsent, Jesse. Besonders schön finde ich es, wenn Ada und Luke von dir erzählen. Als wir letztens zusammensaßen, meinte Luke, während er sich Weintrauben in den Mund steckte: "Jesse hat mir 'mal von einem Schulkollegen berichtet, der die Weintrauben immer als Ganzes mit einem Schluck Wasser hinuntergespült hat, weil er sie nicht mochte." Wir mussten bei dieser Vorstellung alle schmunzeln.