Samstag, 19. September 2015
(Auszug aus einem aktuell nicht veröffentlichten Teil des Ursprungsblogs "Ich heiße Vianne!" - damals noch bei blog.de beheimatet)
Meine Finger fühlen sich etwas eingerostet an, weil ich so lange nicht mehr auf diesen Seiten (Anm.: Viannes Blog) geschrieben habe... Mein Herz wird aber immer mit diesen Zeilen verbunden bleiben... Ich weiß, dass einige von euch Jesse hier gesucht und in einigen Beiträgen, auf einigen Fotos auch gefunden haben, zumindest einen kleinen Teil von ihm. Das ist gut. Jesse und Vianne - verwoben, verbunden, vereint? Er wird einen Weg zu ihr finden, und wenn es keinen gibt, wird er einen bauen - mit einer ebensolchen Ruhe und Strebsamkeit, mit Ehrgeiz, Raffinesse, Liebe und einer zielgerichteten Energie, die ihn auch im Leben ausgezeichnet haben. Er wird sie halten, sie wohlig in den Arm nehmen, sie neckisch knuffen, sie hoch in die Luft werfen, bis sie vor Freude quiekt - und sie genauso sicher wieder auffangen. Und sie wird ihn mit ihren kleinen Fingerchen sanft über sein Gesicht streichen wie sie es immer getan hat... Ihr dürft ihn suchen! Hier oder anderswo. Und ihr werdet ihn finden - tief in euren Herzen...
Jesse ist gestorben. Am Donnerstag, 17. September 2015, um 21:09 Uhr. Nach einer Stunde vergeblicher Reanimation...
Sehr abstrus diese Stunden, während die Ärzte versuchten, sein Leben zu retten, und wir, ausharrend in einem sterilen Wartezimmer, festsaßen, gefangen wie ein Tiger im Käfig, der stupide an den Gitterstäben entlangstreicht, immer der gleichen Route folgend, um nicht durchzudrehen. Durch Tür und Wände gerade einmal 20-30 Meter von Jesse räumlich getrennt, und doch gefühlt meilenweit entfernt, während mein ältester Sohn um sein Leben kämpft. Mir wird gerade kotzübel, während ich diese Zeilen schreibe. Eingesperrt. Nein, eher ausgesperrt. Zum Warten verdammt. Mit spärlichen Infos gefüttert, gerade soviel, um nicht zu verhungern. Ich weiß noch, wie der Arzt flüchtig seinen Kopf durch die Tür zum Wartezimmer steckte und uns entgegenrief, dass sie gerade reanimieren.
Dann durften wir zu ihm. Nur war er da bereits tot. Ich habe ihn das erste Mal nach seinem Sturz ohne Schläuche und Beatmungsgerät gesehen. Es mag sich komisch anhören, aber das war das Erste, was mir aufgefallen ist. Nach dem ganzen verkrusteten Blut an Mund, Ohr und Nasenlöchern... Wie konnte aus Jesse, einem kräftigen, willensstarken jungen Mann, sämtliche Lebensenergie entweichen? Nach einem Unfall aus rund vier Metern Höhe. Es waren "nur" vier Meter!!! Manche überleben Stürze aus größerer Höhe. Sogar nach einem Fallschirmabsprung. Die ganzen langen sechs Tage zwischen seinem Sturz und seinem Tod habe ich immer wieder gedacht, dass er gar nicht sterben kann. Dass das rein statistisch gar nicht sein kann. Zwei Kinder innerhalb von nicht einmal zwei Monaten. Statistiken sind scheiße!
Es ist schon interessant, wie der menschliche Geist funktioniert. Ich weiß noch, dass ich nicht lange bei Jesse war, nachdem wir zu ihm durften. Ich kann mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Ich war da - und doch nicht. Trauma. Kein Traum. Ich weiß, dass ich Jesse berührt habe, aber ich weiß nicht, ob ich ihn geküsst habe. Im Nachhinein hätte ich mir mehr Zeit gönnen sollen mit ihm. Aber damals reichte mir der Moment, obwohl ich nicht einmal sagen kann, ob er 5 oder 10 Minuten oder eine halbe Stunde gedauert hat. Ich weiß noch, dass ich strukturiert und leise war. Fast kalt gewirkt habe. Kein Schreien. Keine Tränen. Nur reine Funktion. Irgendwie glasklar, und andererseits gedämpft. Schock. Reine Überlebensinstinkte übernehmen. Ich wusste nur eines: Ich muss hier weg und ich kann nicht nach Hause. Kann nicht Ada und Luke, meiner Schwester und Ralf entgegentreten. Kann ihnen Jesses Tod nicht persönlich mitteilen. Und ich kann nicht mit Micha OHNE Jesse gemeinsam irgendwohin. Ich hatte vorher einen Deal gemacht und ließ mich abholen, um abzutauchen. Ganz tief. Mit dem Wunsch der absoluten Betäubung, der inneren Abspaltung. Dissoziation. Schock. Ich organisierte noch, dass Micha von Freunden sicher nach Hause begleitet wird (an dieser Stelle aus tiefsten Herzen: Danke Nicole und Frank). In der Wartezeit ging ich den Krankenhausflur - es muss schon spät am Abend gewesen sein - auf und ab, immer der gleichen Anzahl an Schritten folgend, krampfhaft am Schema entlanghangelnd, bis ich an der kalten Wand angekommen war, vor die ich meinen Kopf rammte. Gerade so fest, dass ich körperlichen Schmerz spürte, um dazubleiben. Um meinen Verstand nicht von einem Schmerz auffressen zu lassen, der das Universum in die Tasche gesteckt hätte. Immer wieder. Immer die gleichen Abläufe, an denen ich mich Schritt für Schritt mental am Leben hielt. 20 Schritte hin, 20 Schritte zurück, Kopf vor die Wand, 20 Schritte hin, 20 Schritte zurück, Kopf vor die Wand, 20 Schritte hin, 20 zurück, Kopf vor die Wand, 20.... Immer und immer wieder. Ich wusste, dass ich diese Nacht nur überlebe, wenn ich mich mental abspalte, mein altes Leben, ein Leben mit Jesse, abstreife. Sofort. Ganz. Ohne Rücksicht auf Kollateralschäden. Mein Leben in der bisherigen Art und Weise weiterzuleben erschien mir unmöglich. Und ich wusste genau. Mache ich diesen Schritt nicht, zerbreche ich. Wie gesagt: Reiner Überlebensinstinkt, brachiale Reduktion auf das Wesentliche. Das hat mich gerettet. Zwei Tage später, am Samstag, 19. September 2020, habe ich die obigen Zeilen in Viannes Blog schreiben können. Durchdrungen von Liebe.
Donnerstag, 17. September 2020
I'd like to say I'm ok but I'm not... Ich habe überlebt, ja, habe einen Teil meiner Persönlichkeit hinüberretten können - und einen großen Teil verloren. Ein Video aus der Schweiz aus dem Jahre 2013, das ich gestern beim Stöbern in der GoPro-Datei gefunden habe, hat mir glasklar vor Augen gehalten, wie viel ich verloren habe. Was für ein Spiegel! Man denkt ja auch immer, man altert nicht. Genauso ist es mit der Wahrnehmung, dass man sich gar nicht so sehr verändert habe. Wie viel Wut und Unzufriedenheit meinen Alltag heute leider allzu oft bestimmen. Wie wenig Lachen, Ausgeglichen- und Unbeschwertheit in Vergleich zu früher noch übrig geblieben sind. Und das Video stammt aus einer Zeit unter Viannes Erkrankung, so dass ich auch da schon allen Grund gehabt hätte, die Traurigkeit in mein Leben zu lassen. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich noch von der Hoffnung durchtränkt, dass alles ein gutes Ende nimmt, trotz aller Sorgen. Die Schweiz, das PSI und seine Mitarbeiter: Hoffnungsträger und Herz in einem. Es ist nicht so, dass ich fünf Jahre nach Jesses Tod nicht lebe. Das tue ich. Aber nicht an Tagen wie heute. Doch hin und wieder. "Und das muss genügen", sage ich mir dauernd. Ich bin demütiger geworden. Ich bin müder geworden. Verarbeitungsmechanismen, die mir in den vergangenen Jahren zuverlässig geholfen haben, musste ich in diesem Jahr abstreifen. Das erklärt vielleicht meinen mentalen Einbruch heute. Und wer mich kennt, weiß, dass ich mehr will als ein "das muss genügen". Ich habe gestern wirklich überlegt, ob ich kurzerhand zu Luke (Tätowierer) nach Bangkok fliege und mir endlich mein Jesse-Tattoo stechen lasse. Wirklich! Kein Scherz. Ok, ich bin doch noch da und nicht gänzlich abhanden gekommen :). Das beruhigt.
Es ist interessant, sich selbst zu betrachten: Nach Jahren der nicht versiegenden Tränen ist mir aufgefallen, dass mein rechtes Auge schneller weint als mein linkes. Kennt ihr das? Ich kann auch leise und unauffällig weinen, da ich meistens keinen Bock darauf habe, getröstet zu werden. Ist auch nicht nötig. Das hier ist eine Momentaufnahme. Morgen weht ein frischer Wind, das weiß ich. Ich hatte heute ein gutes Gespräch mit Luke. Er hält sich nicht an diesen Eckdaten (Geburtstag, Todestag etc.) fest. Das ist gesund. "Eigentlich macht's doch keinen Unterschied." Er hat Recht. Jesse ist weg: Heute, Morgen, Übermorgen... und lebt in uns und all seinen Freunden weiter. Übrigens Danke für eure lieben Nachrichten heute. Ich bin immer wahnsinnig berührt, dass ihr auch so viele Jahre nach seinem Tod mit dem Herzen noch bei ihm (und uns) seid.
Ada hat heute leckere Muffins für uns gebacken...
Auf dem Video aus der Schweiz haben wir übrigens eine Paddeltour auf dem Rhein gemacht und haben uns mit der Strömung mitreißen lassen. Jesses trockene Kommentare in dem Video sind zum Schreien.
Andere Sequenzen zeigen ihn mit Kai beim Skateboarden. Lässig, cool, smart, mit einem spitzbübischen Grinsen und einer Riesenportion Charme durchtränkt...
Wie du mir fehlst, Jesse. Ich hoffe, es gibt vernünftige Skateboard-Decks, da wo du jetzt bist und genug Möglichkeiten, um abseits der Pisten snowboarden zu können. Fly high, hab Nachsicht mit mir, Jesse, und gib die Hoffnung nicht auf, dass ich den verloren gegangenen Teil meiner Selbt wiederfinde. Believe in me. Liebe dich. Mein Herz zu deinem Herz. Meine Seele zu deiner Seele...