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Samstag, 9. Dezember 2017

Elternsprechtag

Hey Jesse!
Der November hat mich ausgelaugt, hat mir mehr abverlangt, als ich im Vorfeld  befürchtet hatte: Ich wusste, dass zu viele herausfordernde Termine anstanden, und doch hatte ich den irrsinnigen Gedanken (oder war es vielleicht Hoffnung???), dass ich da irgendwie gut durchkommen würde. Vortrag, Tagung und Lesung haben letztendlich auch gut geklappt. Du wärst wahnsinnig stolz auf mich gewesen, mein Großer, das weiß ich. Du hast mich immer ermutigt, beruflich durchzustarten. Aber es hat mich auch viel gekostet ... nicht in monetärer Hinsicht. Erst die kleinen, nervigen, unangenehmen Dinge, die im normalen Leben so passieren, haben wir ganz deutlich vor Augen gehalten, wie fertig ich bin. Denn dabei verspürte ich häufig so eine immense Wut, dass es mir absolut egal war, was mein Umfeld in diesem Moment von mir dachte. Diese Wut richtete sich kürzlich geballt gegen diese absolut scheußlich unmotivierte, mürrische,  sich an unsinnige bürokratische Bestimmungen haltende Dumm-Nuss der Deutschen Bahn. Hi! Gereiztheit ist mein zweiter Vorname. Bei der Bahn-Story wärst du inhaltlich absolut auf meiner Seite gewesen, weil ich genau weiß, wie du dich oftmals über die Bahn und deren Mitarbeiter aufgeregt hast. Du konntest dich da wahnsinnig hineinsteigern und hast dir an unserer Küchentheke ein ums andere Mal empört Luft gemacht. Lauthals gelacht habe ich bei deiner Beschwerde-Email an die DB. Ja: sie war arrogant, triefend vor Ironie, in Absätzen über die Stränge schlagend, unverschämt - und so dermaßen lustig und unterhaltsam! Sehr gelungen für einen 15-Jährigen. Ich muss gerade schmunzeln ... JESSE, du fehlst mir. Deine Ironie fehlt mir. Dir hätte es zwar auch nicht unbedingt gefallen, wie ich mich im DB-Center aufgeführt habe, es wäre dir irgendwie peinlich gewesen und du hättest mich später sanft getadelt, dass ich es auch hätte subtiler, ironischer verpacken können. Aber du wärst andererseits beeindruckt gewesen, weil ich in diesen Momenten so unglaublich selbstsicher und bestimmt bin. Und es war befreiend, weil ich ansonsten erstickt wäre an meiner angestauten Wut und Verzweiflung. Ein Ventil.... Was es nun mit dieser Bahn-Geschichte auf sich hat? Luke spielt darin die Hauptrolle. Er hatte es geschafft, irgendwie seine Stammkarte zu verbummeln, es aber nicht für nötig erachtet, uns davon zu erzählen oder eine neue zu beantragen. Somit ist er immer nur mit dem entsprechenden Monatsticket gefahren - ohne die Stammkarte. Daraufhin hat ihm eine übereifrige Kontrolleurin eine "Nacherhebungsgebühr" aufgebrummt - 60 Euro - obwohl sich Luke als Schüler ausweisen konnte. Von der Gebühr wird Abstand genommen (bis auf einen läppischen Betrag von rund 7 Euro), wenn man innerhalb einer vorgegebenen Frist seine gültige Fahrkarte für den Zeitpunkt der Fahrt nachweist.Wir machten uns also auf den Weg zum Kundencenter am Schwerter Bahnhof, denn: har har, am Iserlohner Bahnhof gibt es noch nicht einmal ein richtiges DB-Kundencenter. Sie dürfen dort zwar Fahrkarten verkaufen, nicht aber solche Nacherhebungssachen behandeln. Einmal hätte es es gewagt, erklärte der wirklich engagierte, freundliche Mitarbeiter, daraufhin habe er von oberster Stelle eine Rüge wegen Kompetenzüberschreitung bekommen mit der Aussage, er wäre zu kundenfreundlich, har har... darüber muss sich die Mitarbeiterin in Schwerte wohl keine Sorgen machen. Luke hatte mittlerweile eine neue Stammkarte, aber, da bereits der 1.Dezember war, nicht mehr die geforderte November-Marke dabei (die die "nette" Zugbegleiterin ja bereits gesehen und deren Daten wahrscheinlich notiert hatte). Jedenfalls bemängelte Mrs. Bahn-Frohnatur nun die fehlende November-Monatsmarke (die Luke blöderweise jetzt nicht mehr hatte, weiß der Himmel wo die mittlerweile abgeblieben war). Also weigerte sie sich -  total regelkonform - die 60 Euro-Gebühr fallen zu lassen. Ich habe ihr anschließend vor Publikum sehr klar, direkt und deutlich zu verstehen gegeben, was ich davon halte...
Vor wenigen Tagen war ich zu Lukes Elternsprechtag an "deiner" Schule. So viel verbinde ich dort mit dir. Ich sehe dich dort überall, sehe, wie du freudig-aufgeregt neben Kai an deinem ersten Schultag im Eingangsbereich stehst, sehe dich neben mir in der Aula sitzen und den Ausführungen zur Q-Phase lauschen, warte auf dich am Hemberg-Parkplatz...Ich bin an deiner Schule an dem Tag, an dem du verunglückst - es ist der Tag der offenen Tür. Jedes Mal, wenn ich an das Märkische Gymnasium komme, überfällt mich eine tiefe Traurigkeit. Schon auf dem Weg zum Elternsprechtag flossen meine Tränen. Allerdings blieb mir kurz darauf kaum noch Zeit, traurig zu sein, weil Luke 'mal wieder die Termine vertauscht hatte und ich hektisch von einem Raum zum nächsten hetzen musste. Dann sah ich Frau S. Du hast sie nie kennengelernt. Du warst bereits tot. Sie ist eine solch liebenswerte Frau, die Ada und Luke sehr einfühlsam durch die erste Trauerzeit begleitet hat. Sie hat normalerweise nichts mit dem MGI zu tun, doch im Rahmen eines Kooperationsprojektes stand sie an diesem Tag im Schul-Foyer... und wieder kamen mir die Tränen. Kurz darauf traf ich deine Lieblingslehrerin, die mir so sehr ans Herz gewachsen ist. Sie fragte mich, ob ich einen Moment Zeit hätte. Wir saßen gemeinsam im Bio-Raum - in deinem Raum! "Dort oben, ganz rechts außen, da hat Jesse immer neben Fynn gesessen..." Unser beider Augen schimmerten verdächtig  bei der Erinnerung an dich. Sie erzählte mir, dass sich alle deine engsten Freunde auch an deinem diesjährigen Todestag am Seilersee versammelt und auf dich angestoßen haben... Zeit mit dir verbracht haben. Ich war so dermaßen ergriffen von dieser Nachricht. Die Jahre zuvor waren wir dabei gewesen, doch in diesem Jahr hätten wir nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass sie sich mit Esther dort treffen, schließlich geht jeder mittlerweile seinem Studium oder Praktikum, seiner Ausbildung oder anderen Dingen nach. Du hast solch wertvolle Menschen um dich gehabt, Jesse! Und sie stehen noch immer an deiner Seite. Ich hoffe, dass du es irgendwie sehen/fühlen/spüren kannst, wo immer du auch sein magst. Deine Freunde! All die Menschen, die dich geschätzt und geliebt haben: was für ein Geschenk. Ich bin so ergriffen und erschüttert in einem....
Kais Tat hat mich bis in die Tiefen meines sich zersetzenden, selbst zerfleischenden  Herzens berührt: ihr beiden kennt euch seit dem Kindergarten, habt gemeinsam Hennen und und später die weitere Umgebung erkundet, ward zusammen am Gardasee und seid mit den bikes den Monte Baldo hinunter gefahren, habt euch in Österreich wilde Skirennen geliefert und euch später im Restaurant total lustig daneben benommen, habt euch bei euren Skateboard-Tricks gefilmt - sogar während ihr übel auf die Nase gefallen seid -  und sicherlich so viele dumme, gefährliche, lustige Sachen gemacht, von denen ich besser nichts weiß.
Großartig! Danke...

Mittwoch, 18. Oktober 2017

Pädagogisch nicht wertvoll...aber wohltuend!

Hi Jesse! 
Im dichten Nebel startete dein heutiger Geburtstag - wabernde Wolkenschichten um mich herum, kreischende Töne, die irgendwann nach außen drangen, Tränenschleier - schlechte Sicht auf dich... bis sich der Himmel klarte und die Sonne hell und gelb und wärmend auf deinen heutigen Geburtstag schien - auf dich! Wo immer dich deine Reise auch hingeführt haben mag...

Du bist in den Gedanken so vieler lieber Menschen: mehrere Nachrichten erreichten mich, so viele Freunde waren heute noch ein bisschen näher bei dir als sonst, um deinen 18. Geburtstag unvergesslich zu machen. Und ich glaube ganz fest daran, dass du es heute hast richtig krachen lassen. Ada - und ich gestehe: wir Erwachsenen ebenso - haben Knallerbsen neben deinem Grab auf den Boden geschmettert (ich hätte auch einen Böller für dich gezündet, aber ich glaube, das hätte zu Nachforschungen geführt 😎). Adas und Lukes Liebe zu dir ist so tief, sie drücken sie nur auf unterschiedliche Weise aus: Luke lieber still und leise - er ist noch im Dunkeln zu deinem Grab gegangen und hat sich einen exquisiten Brudermoment mit dir genommen - Ada zeigt sie bunt und blühend. "Mama, ich kriege doch noch Taschengeld!", erinnerte sie mich nach dem Mittagessen. "Ich erklärte ihr, dass ich ja auch noch Geld von ihr bekommen würde und wir es verrechnen könnten (du kennst sie ja...). "Hm, ich wollte aber eben zum Blumenladen fahren und Jesse eine Blume kaufen", sagte sie nachdenklich. Daraufhin drückte ich ihr etwas Kleingeld in die Hand und ließ sie losziehen. Sie kam mit mehr Blumen zurück, als man eigentlich für 2,50 Euro bekommen kann. "Ich muss heute sehr an Jesse und Vianne denken", erzählte sie leise und fügte hinzu: "Ich wusste gar nicht so richtig, was ich sagen sollte, als mich die Verkäuferin fragte, für wen die Blumen seien. Ich gabe gesagt: für meinen Bruder, der gestorben ist... und dann hat sie mir noch mehr Blumen gegeben", berichtet sie mit einem glücklichen Lächeln auf ihrem Gesicht. 
Sie hat dir auch noch ein Bild gemalt und auf die Rückseite einen Brief geschrieben, den sie dir in das große Windlicht auf deinem Grab gelegt hat. 

"Lieber Jesse, 
ich muss heute sehr an dich denken. Weil dein Geburtstag ist. Ich vermisse dich jeden Tag. Ich hoffe es geht dir gut. Mir geht es auf jeden Fall gut. Ich hoffe jedenfalls, dass du verstehst, dass ich dich lieb habe. Egal wo du das liest, ob du das auf dem Himmelskratzer liest oder im Wasser. Jetzt weißt du jedenfalls, dass ich dich lieb habe. 
Deine Ada"

Micha und ich haben uns heute Nachmittag mit Schoofis "Holundersaft" im Gepäck auf eine "spritzige" Fahrradtour begeben...
Happy Birthday, Großer! Welch VaNdALisMus... Wir sehen uns im "Pink Flamingo"!

PS: Heute waren viele tolle Leute bei dir ... Danke Fynn, Danke an euch alle!

Sonntag, 17. September 2017

Flaschenpost für dich

Die vergangenen Wochen haben mich die Bilder deiner letzten Lebenstage überfallen, weil mein Herz wusste, welcher Tag bald anstehen würde. Egal wo, egal wann: die Bilder füllten meinen Kopf, ob beim Einkaufen, während Klassenpflegschaftssitzungen, auf Autofahrten...  ich sehe dich stürzen, ich sehe dich sterben, obwohl ich keine der beiden Momente wirklich erlebt habe. Es sind aber auch reale Bilder und Empfindungen aus der Zeit zwischen dem 11. und 17. September 2015, die wie  Kometen mit voller Wucht auf mir einschlagen und tiefe Krater hinterlassen. Nach ihrem Aufprall ist mein Himmel so eingetrübt, dass  all die schönen Erinnerungen an dich nicht mehr durchscheinen können. Die dicke Staubwolke trägt die Polizisten mit sich, die gegen Mitternacht im September 2015 anklingeln, das Krankenhaus in Hamm, die Intensivstation, dieses schäbige Zimmer im Schwesternwohnheim, in dem wir geschlafen haben, den absolut bekloppten Seelsorger, der meinte, uns mit seinen Scheiß-Plattitüden zuschwafeln zu müssen und dem ich seine Scheiß-Phrasen am liebsten in seinen dämlichen Schlund gestopft hätte. Und die Wolke trägt dich. Ich sehe dich dort liegen, beatmet, mit Schwellungen im Gesicht, Aufschürfungen. Du fieberst. Dein Oberkörper ist hoch gelagert. Deine schweren Schädelverletzungen und deine sich ausbreitende Lungenentzündung ist nach außen hin kaum sichtbar. Es ist nach 20 Uhr. Gerade jetzt versuchen dich die Ärzte wiederzubeleben - eine Stunde lang. Du stirbst gleich. Ohne mich. Ich stehe draußen vor dieser verdammten Tür zur Intensivstation und sie lassen mich nicht ein, geben immer nur kurze Infos raus. Dieses linoleumschäbige Wartezimmer wird zum Käfig. Ich durfte nicht bei dir sein, als du gestorben bist - heute schreie ich vor Wut darüber. Ich hätte bei dir sein müssen, wie bei Vianne. Es ist brutal. Es ist unmenschlich. Dieser letzte Moment hätte uns gehören müssen.... Es macht mir so zu schaffen... Ich war nicht an deiner Seite...Ich war nicht da!
Es ist der 17.09.2017, genau 21 Uhr, während ich dir schreibe. Ich habe noch 9 Minuten mit dir, bevor ich in das dritte Jahr ohne dich gehe. Der Druck der vergangenen Wochen löst sich gerade etwas. Luke, Micha, Ada und ich haben heute bis zum Mittag ausgeschlafen und abgehangen. Micha und ich sind erst um 5 Uhr heute Morgen von einer Party nach Hause gekommen. Sehr gut! Ich will heute auch gar nicht fit und aktiv sein. Wir hatten uns im Vorfeld zum 3-D-Minigolf angemeldet, weil keiner von uns Lust hatte, sich heute ein blödes Stück Torte in Gedenken an dich hineinzuwürgen oder mit Trauermiene zum Friedhof zu stapfen. Deshalb haben wir im Neonlicht den Golfball eingelocht und hinterher chillig auf dem Fatboy gegenseitig mit leckeren Limonadenflaschen  angestoßen (eine ist natürlich halb auf dem Sitzsack ausgelaufen - du siehst, es ist "fast" wie immer). Die Geschacksrichtung "Melon" haben wir entführt und mit an die Ruhr genommen - und sie kurzerhand zur Flaschenpost umfunktioniert. Wir vier haben dir alle ein paar persönliche Worte auf ein Blatt geschrieben, das wir zum Glück noch nebst Kugelschreiber im Auto gefunden haben. Keiner durfte die Worte des anderen lesen. Sie sind nur für dich bestimmt, Jesse. Es war eine spontane Aktion. Das Blatt passte perfekt in die Flasche. Ada hat zum Schluss noch eine Blüte in die Flasche gegeben, ich etwas Birkenrinde (ich kann dir gar nicht sagen warum). Dann haben wir die Öffnung mit einem Ast verschlossen, den wir kurz zuvor gefunden hatten. Der Ast passte haargenau in die Flaschenöffnung - echt unglaublich. Wir haben die Flaschenpost noch kurz gemeinsam gehalten, bevor Luke sie in hohem Bogen in die Ruhr geschleudert hat. Lange haben wir ihr hinterhergeschaut. Viel Spaß beim Lesen, Großer!


Du fehlst jede Sekunde... uns allen!

Montag, 11. September 2017

Fortsetzung: Ähnlichkeit

Mit Erschrecken stelle ich fest, dass der letzte Post beinahe drei Monate zurückliegt und ich noch immer keine Fortsetzung geschrieben habe... 
29.11.2015: Es ist der 1. Advent - unsere erste Vorweihnachtszeit ohne dich - und ohne Vianne. Nach Viannes Tod schoss mir kurz der traurige Gedanke durch den Kopf, dass unser Familienadventskalender ohne sie nicht funktioniert, dass sich die 24 Tage bis Weihnachten nicht durch 5 Personen teilen lassen... Wie pervers... nur wenige Wochen später ließ sich der Familienkalender wieder teilen... durch uns 4. Wir füllen ihn aber nach wir vor jedes Jahr für sechs Familienmitglieder, denn ihr seid noch immer ganz nah bei uns. Ada stellt dir jedes Jahr deinen heißgeliebt-hässlichen, grünen, aufblasbaren Plastikweihnachtsbaum ins Zimmer und diese Geste rührt mich immer zutiefst. 
17.01.2016: Alles, was zum ersten Mal ohne dich geschieht, ist unglaublich schwer. Wir machen uns mit Ada und Luke auf nach Altastenberg zum Ski- und Snowboardfahren. Es ist schrecklich, dass du nicht an Lukes Seite boardest und ihm keine Sprünge und Tricks mehr beibringen kann. Du wärest stolz auf ihn gewesen. Es ist schrecklich in die Nähe des Ortes zu fahren, wo du verunglückt bist. Aber es ist auch gut und heilsam, weil wir dir beim Snowboardfahren nah sein können. 
24.01.2016: Der Schmerz ist ein allgegenwärtiger Begleiter, so stark, so präsent in den letzten Wochen. Luke möchte nachts bei uns schlafen - Adas Nähe reicht ihm nicht mehr. Er hat wiederkehrende Alpträume - er sieht, wie du stürzt... vom Balkon. Immer und immer wieder. "Ich vermisse ihn!", sagt er uns mit Tränen in den Augen. Ja, er vermisst dich schrecklich. Luke erzählt uns, wieviel 'Mist' ihr zusammen gemacht habt, und muss dabei schon wieder schmunzeln. "Wenn mir langweilig war, bin ich immer zu Jesse gegangen...", erinnert er sich. An diesem Tag stehe ich an einer Weggabelung: Welches Leben werde ich wählen? Das Leben, in dem ich funktioniere - oder das Leben, in dem ich lebe?
17.03.2016: Ich war heute am MGI (Märkisches Gymnasium Iserlohn), an deinem Gymnasium, das auch dein Bruder besucht. Es ist so befremdlich und du bist so allgegenwärtig, obwohl es bei diesem Termin um Luke geht. Es ist alles so verwoben. Ich sehe dich auf dem Schulhof... ich stehe deiner Bio-LK-Lehrerin gegenüber, die zugleich Lukes Klassenlehrerin ist. Vor gut einem halben Jahr war ich zu deiner Stufenpflegschaftssitzung hier...
Juni 2016: Luke hat nur einen Wunsch: "Ich möchte Jesse nur noch ein einziges Mal richtig sehen dürfen." Ich kann deinem Bruder diesen Wunsch nicht erfüllen. Lukes Schmerz ist mein Schmerz. 
Sommer 2016: Im ersten Halbjahr 2016 spricht Luke uns zögerlich darauf an, ob er in dein Zimmer ziehen dürfe. Ich finde es gut, dass er fragt, fühle mich andererseits in diesem Moment wie von einer dicken Watteschicht umhüllt, durch die nur dumpf die Worte dringen. Wir fragen ihn in den kommenden Wochen wiederholt, ob er das wirklich wolle, hinterfragen, ob es ihm wirklich gut tun würde. Aber er bleibt beharrlich und zeigt uns, dass es ihm sehr wichtig ist. "Ich fühle mich Jesse dort nah", erklärt er mit einer Reife in der Stimme, die mich schier sprachlos macht. Er hat so recht. Ich möchte aus deinem Zimmer keinen Schrein machen. Es muss wieder mit Leben gefüllt werden und ich bin mir sicher, dass du dir dort niemand anderen als Luke vorstellen kannst. Andererseits habe ich so eine Angst vor dem Schmerz, der mich überrollen wird, wenn wir deine Sachen zusammenpacken - dein Leben einpacken. Wir bitten Luke noch um etwas Zeit, bevor wir den Zimmertausch (und die Renovierungsarbeiten) angehen, weil ich noch nicht so weit bin. Er ist so verständnisvoll und geduldig. Ich bin ihm absolut dankbar, dass er letztendlich den Anstoß gegeben hat. Im Sommer 2016 haben wir es geschafft, dein Zimmer auszuräumen, deine persönlichen Dinge, deine Kleider zusammenzupacken. Es war ein intimer Moment, es war ein zerreißender Moment. 15 Jahre Leben auf Kartons verteilt - liebevolle, schmerzhafte Erinnerungsstücke. Wir sehen dich nach wie vor in deinem Zimmer, aber das Zimmer hat ebenso eine besondere Luke-Note erhalten. Er ist dir so ähnlich, dein Bruder, und doch so wohltuend einzigartig. Er schläft seitdem übrigens wieder sehr gut. Es war die richtige Entscheidung.

Mittwoch, 28. Juni 2017

Ähnlichkeit

Luke ist mittlerweile 13 Jahre alt - und er wird dir immer ähnlicher - es ist schön und schmerzhaft in einem. Natürlich ist er eine ganz eigene Persönlichkeit und das ist gut so. Er soll das "Luketypische" nie verlieren. Schon immer habe ich die Vielfalt von euch Vieren geliebt. Ihr ward euch auf eine Art alle ähnlich - und doch so unterschiedlich. Es war richtig spannend. Es sind Kleinigkeiten, angefangen von seiner Figur bis hin zu einigen Interessen, die mich an dich erinnern: er ist sehr viel gewachsen im letzten Jahr, wahnsinnig in die Höhe geschossen...wie du - damals. Allein die Form seiner Beine und die stinkigen, abgelaufenen Turnschuhe lassen Erinnerungen aufleben. Er ist offener als du, erzählt etwas mehr. Vielleicht war damals unter Viannes Erkrankung einfach nicht der Raum für dich da, ausführlicher erzählen zu können??? Nein, du warst schon immer etwas verschlossener und hast viel mit dir selbst ausgemacht. Ihr beide habt eine Affinität zum Unterrichtsfach Deutsch - es fällt Luke ebenso leicht wie dir, obwohl du Worte noch etwas treffender einzusetzen wusstest als dein Bruder. Irgendwann hat er dich ein, wird auch 15 Jahre alt sein - in zwei Jahren wäret ihr dann wie Zwillinge, denn es gibt keine Bilder von dir in meinem Kopf über dein 16. Lebensjahr hinaus. Es ist so verstörend. Deine Freunde und Weggefährten werden natürlich hingegen älter, sind mittlerweile volljährig (oder kurz davor), fahren Auto, haben ihr Abi in der Tasche, sind zu jungen Erwachsenen gereift - es ist so verwirrend und so schwer, die Bilder übereinander zu bekommen. Noch immer denke ich manchmal, du würdest gleich durch das Gartentor treten oder mich anrufen und beiläufig fragen, wann ich denn nach Hause kommen würde, weil du 'mal wieder deinen Haustürschlüssel vergessen/verlegt/verloren hast und auch den Ersatzschlüssel von Steffi (den du dir bereits den Tag zuvor besorgen musstest) in deinem Zimmer liegengelassen hast, anstatt ihn zurückzubringen. Du wirst keinen Tag älter werden, keine neuen Bilder, nur in meiner Phantasie. Manchmal male ich mir aus, wie du jetzt - mit 17 - aussehen würdest, wie du dich benehmen würdest...
Ich möchte viel öfter von dir erzählen, so dass ich manchmal gar nicht mehr weiß, wo ich anfangen soll. Ich führe ein kleines Notizheft mit mir. Dort sammele ich alle Gedanken über dich. Manchmal reicht ein klitzekleiner Auslöser und die Bilder strömen auf mich ein. Ich sammle in dem Heft Gespräche von Ada und Luke über dich... Gerade ist mir aufgefallen, wie viele Details aus dem Jahre 2015 und 2016 dort aufgeschrieben stehen - und wie wenig ich davon erzählt habe. Ich dachte wirklich, ich hätte es schon in deinem Blog erzählt. Fehlannahme!
Sonntag, 4. Oktober 2015 - am Strand in der Nähe von Nizza: du bist erst vor wenigen Wochen gestorben, Vianne vor etwas mehr als zwei Monaten. Ada und Luke streiten sich inmitten von Sand und Muscheln, Meer und Wellen unter einem strahlend-blauen Himmel - es ist so surreal: die Meeresbrise, leuchtende Farben um uns und tiefstes Schwarz in mir. Ich trage trotzig ein knallrotes Kleid - eine Hommage an das Leben  - und frage mich, wie sich die beiden bloß so streiten können, wo sie sich doch nur noch haben. Vianne und Jesse sind fort. Ich knalle ihnen mein Unverständnis über ihre Streitigkeiten direkt vor den Kopf: "Ihr habt nur noch euch beide - warum könnt ihr nicht nett miteinander umgehen??", frage ich sie mit einem bitteren Unterton in meiner Stimme. Bis Luke diesen einen Satz sagt. Ganz leise: "Ich suche Jesses Zurechtweisung. Er hat mich immer zurechtgewiesen, wenn ich Ada geärgert habe. MIR FEHLT JESSES ZURECHTWEISUNG!" Eine ganz eindeutige, klar formulierte Aussage. Er hat so recht! Ich nehme beide in die Arme und wir legen aus Muscheln gemeinsam deinen und Viannes Namen in den Sand....



 


31.Oktober 2015 - zuhause: dein Zimmer ist so, wie du es verlassen hast, bevor du auf die Tennisfahrt gegangen bist. Nein, nicht ganz. Deine gepackte Reisetasche steht im Raum. Das Krankenhaus hat sie uns mitgegeben. Darin die Sachen, die du nach Winterberg mitgenommen hast. Du hast sie nicht mehr getragen. Du bist gestürzt, bevor du dort übernachten konntest... Ich krame in deiner Tasche auf der Suche nach dir... Neben deinem Bett liegt ein weißes T-Shirt, dass du in deiner letzten Nacht zuhause getragen hast. Ich presse es mir auf die Nase, sauge deinen Geruch ein, unfähig, es wieder zur Seite zu legen. Ich schaue in eine Schublade und finde dein altes Freundebuch aus der Grundschule. Anschließend liege ich bäuchlings in deinem Zimmer auf dem Boden, auf dem Boden, den du dir für dein Zimmmer ausgesucht hast. Ich liege dort schreiend, weinend...lange...
01. November 2015 - draußen.: dank Rafaels guter Beschreibung habe ich heute beim Laufen endlich die Natursteinmauer, eine kleine Mauerruine umwachsen von Grün, im lichter werdenden Wald gefunden - ein magischer, ein mystischer Ort. Endlich kann ich mit eigenen Augen sehen, was du gesprayt hast: Winnie Puh, Patrick und ein kleines Monster schauen mich an. Du schaust mich an. Du bist mir hier so nah. Ich verweile lange bei dir.


17. November 2015 - zuhause: Luke möchte am Fußballtraining teilnehmen. Seine Entscheidung kommt für uns aus heiterem Himmel. Er hat sich noch nie für Fußball interessiert. Aber jetzt auf einmal. Auch du hast Fußball gespielt. Rate mal, wer Lukes Mannschaft trainiert? Dein ehemaliger Trainer und dein Schulkollege, mit dem du früher gemeinsam in einer Mannschaft gespielt hast. Was für ein seltsamer Zufall. Mir wird übel vor Schmerz, aber ich möchte Luke nicht bremsen. Du hast ungefähr in Lukes Alter mit dem Fußballtraining aufgehört. Also müssten Luke deine Sachen passen. Ich versuche, ganz pragmatisch zu denken. Du hättest nichts dagegen, dass Luke deine Sachen trägt. Ich glaube sogar, du könntest dir keinen Besseren darin vorstellen. Ich frage ihn, ob er mit mir gemeinsam schauen möchte, ob etwas Passendes für ihn dabei sei. Er möchte. Ich weise ihn mehrmals darauf hin, dass wir auch neue Sachen kaufen können. Aber er möchte unbedingt in deinen Sachen nachschauen. Wir gehen in dein Zimmer, räumen deine alte Fußballtasche aus. Alles passt ihm: die Fußballschuhe, die Trainingsjacke, die Fußballhose. Er trägt deine Sachen ganz ohne Berührungsängste. In seiner neuen Mannschaft wird Luke Torwart... wie du damals.  Ich habe Angst, dass er versucht, dich zu ersetzen oder zu kopieren. Abends nehme ich ihn beiseite und sage ihm eindringlich, dass er auf alle Fälle Luke bleiben soll, dass er dich nicht ersetzen muss, dass er genau richtig ist wie er ist - nämlich Luke -  wichtig und wertvoll für uns. Er antwortet, dass wir uns keine Sorgen machen sollen.. Wenige Tage später hole ich mir Rat bei einer Psychologin, die mich zum Glück beruhigen kann. 
Fortsetzung folgt!

Freitag, 26. Mai 2017

Miteinander

Im April und Mai standen nach deinem Fest noch so viele mir persönlich wichtige Dinge an - die Geburtstage von Ada und Luke, unser Osterurlaub, die Lesung, die PSAPOH-Tagung, so dass ich keine Zeit (und auch innere Balance) gefunden habe, von deinem Fest zu erzählen. Und kurz danach war ich einfach zu kraftlos. Neben der Aufregung, die ich immer im Vorfeld als "Organisator" von persönlichen Festen empfinde kam bei deinem Fest noch die tiefe emotionale Ebene dazu. Würde dein Fest so werden, wie du es dir gewünscht hättest? Würden alle dir wichtigen Menschen kommen können? Würde das Wetter mitspielen oder würde uns ein sumpfig-grauer, verregneter Tag erwarten? Würde, hätte, scheiße... Freunde und Familie packten bereits am Vortag kräftig mit an, um den Feierraum herzurichten: Gesprayte Bilder, deine Lieblingsposter, Spruchbänder mit Zitaten von dir, die Snowboars und deine Skatedecks  spiegelten dich so dermaßen wider... Am Samstagmorgen lief ich auf Hochtouren, die Spannung wuchs von Stune zu Stunde, bei uns allen, auch bei deinen Geschwistern. Wir alle waren so dankbar, als Uli und Kilian und die Kinder schließlich hier mittags ankamen und uns die nötig ersehnte innere Ruhe brachten - aus Anspannung wurde wieder Leichtigkeit, aus Zweifeln Bestätigung. Gemeinsam bauten wir noch schnell den Pavillon am Ufer der Ruhr auf. Wie immer ging es herrlich chaotisch zu: die Kinder alberten am Wasser herum und etliche Male konnten sie sich gerade eben noch retten, bevor sie ins Wasser geplumpst wären. Wir fachsimpelten über den Zeltaufbau, denn irgendwie schienen wichtige Verbindungsteile zu fehlen. Doch letztendlich stand das Zelt. Auch das Wetter schien unsere Aufbruchstimmung zu spüren und bedankte sich mit sonnigen Abschnitten. Die Zeit schien zu rasen. Wir genossen nach den Aufbauarbeiten schnell ein kühles Bier und fanden noch gerade eben Zeit, uns frisch zu machen und uns umzuziehen. 
Ich stand draußen vor der alten Kornbrennerei vor dem Feierraum: dann kamen alle: deine Freunde, die mich so herzlich umarmten, deine Lehrer, deine Stufenkollegen, unsere Familie, unsere Familienfreunde, deine Tennisleute, ein paar vom Kolping, Weggefährten, Vertraute.... Wie viele phantastische Menschen du gekannt hast, was für einen authentischen Freundeskreis du gehabt hast. Viele haben mich im Nachhinein angesprochen, wie viele sympathische, unverfälschte großartige junge Menschen du um dich gehabt hast. Es war so ein offenes Miteinander zwischen Jung und Alt, Schülern und Lehrern, Eltern und Kindern. Auf dem Weg zur Ruhr, wo wir dank Noah, Astrid und Luca riesige Wasserbälle, in die man einsteigen und wie in einem Hamsterrad auf dem Wasser laufen konnte, bereitgestellt hatten, hopste die kleine Mathilde vergnügt an meiner Hand im Hopserlauf den Berg hinunter - welch zauberhafte Leichtigkeit...
Du hast einen Stern geschenkt bekommen; Jesse: "Pink Flamingo" - wie passend. Irgendwann werde ich hier die Geschichte, die sich hinter diesem Namen verbirgt, erzählen. Mensch Jesse, was für ein passendes Geschenk. Man kann deinen Stern sogar mit bloßem Auge erkennen. Wenn der richtige Moment gekommen ist, werde ich mich mit meinen "Liebesperlen" irgendwo ins Gras/an den Strand/ oder wo auch sonst wo hinlegen und im Dunklen mit ihnen gen Himmel schauen. Ich war so gerührt von ihrem Geschenk. Und nicht nur davon. Auch an Andis liebevoll vorbereiteten Erinnerungsbaum hängen so viele "Momente" mit dir... So viele Menschen haben ihn geschmücket und mit persönlichen Erinnerungen an dich zum Blühen gebracht. Über die Baustellenleuchte musste ich ausgelassen lachen. Wo und wann habt ihr die denn "mitgenommen"? - Das würde mich wirklich brennend interessieren. Was hat es mit dem schwarzen Gummihandschuh auf sich? War das der, den du dir mal über den Kopf gezogen hast, um wie Spock auszuschauen? Mathilde hat dir übrigens einen tollen Glitzerstein an den Baum gehängt. Wenn ich ihn betrachte, kommen mir jedoch vor lauter Sehnsucht die Tränen - es ist also ein skurriler Mix aus Lachen und Weinen. Es gibt so viele Situationen, in denen ich dich wahnsinnig brauche und vermisse, meistens auf den langen Autofahrten kreisen meine Gedanken um dich und lassen Erinnerungen und verpasste Zukunftsszenarien aufleben. Allein das Wissen um den baldigen Abiball - ohne dich - bewirkt, dass mir kurz die Luft wegbleibt. 
Aber auf deinem Erinnerungsfest warst du dermaßen lebendig. Alle die dort waren, und es waren wirklich viele, vom Zweijährigen bis 70+, haben dich aufleben lassen - mit Geschichten, kleinen Anekdoten, Fotos, Erinnerungsstücken, Musik, Sprüchen, manchmal schweigend einträchtig nebeneinander stehend... Tao hat für dich gesungen - wenn es nach mir gegangen wäre hätte sie nie wieder aufhören sollen. Niklas hat auf der Gitarre lässig-locker gespielt - du hättest grinsend daneben gestanden. Leon hat Fotos von dir zusammengestellt und uns neue Einblicke in die Zeit inmitten deiner Freunde gegeben - echt witzige Bilder 😂. Jemand meinte nach dem Fest zu mir, er habe so viele wertvolle Gespräche über dich mit so vielen tollen, symphatischen Leuten führen können. Besonders schön fand ich, dass der kleine, fußballbegeisterte Milo fragte, ob du früher auch so gerne Fußball gespielt hättest.So viele deiner Freunde haben den Weg zu deiner Party gefunden. Sie haben uns alle begeistert mit ihrer erfrischenden, liebenswerten Art. Sie waren so sehr mit dem Herzen dabei, ergriffen, traurig, vereint mit dieser eurem Alter eigenen Leichtig- und Lebendigkeit. Du hast bis zu deinem Tod so großartige junge Leute um dich gehabt, Jesse. Was für ein Gewinn. Was hättet ihr noch alles gemeinsam erleben können? Eine Zukunft ohne dich wartet auf uns alle... Ich trauere um das, was war, um das was hätte sein können. Ich sitze gerade im Sonnenschein, während ich schreibe und kann nicht aufhören zu weinen. Du bist es so sehr wert, Tränen zu vergießen. Faszinierend ist, dass ich auch nach eindreiviertel Jahren der Traurigkeit noch so viele Tränen übrig habe - ein endloser See aus Liebe. Nach dem Fest war ich so euphorisch, auch noch bei den Aufräumarbeiten - und dann kam diese tiefe Erschöpfung, die Sehnsucht, die Wut, die Hoffnungslosigkeit. Was haben wir da nur für ein Fest ausgerichtet? Wieso konnte ich mich so darauf freuen? Wie skurril? Ich will kein Erinnerungsfest! Ich will mit dir in diesem Jahr deinen 18. Geburtstag feiern, verdammt! Ich will Zeit mit dir erleben und mich nicht nur an die Zeit mit dir erinnern dürfen. Aber es ist, wie es ist und ich kann die Geschehnisse nicht ändern. Und deshalb bin ich andererseits so unglaublich froh und glücklich und erleichtert, dir, mir, uns und all den liebenswerten Menschen um dich/um uns herum solch ein Erinnerungsfest angeboten zu haben. Ich wünsche dir noch großartig, verrückte, halblegale Partys, mein Großer. Lass es krachen, so wie bei dem Feuerwerk, dass die Funkes für dich mitgebracht hatten...























Freitag, 31. März 2017

Do you remember...

Bist du bereit für deine Party, Jesse? Du bist die Hauptperson... auch wenn du eigentlich nicht so gern im Mittelpunkt stehen magst. Zwischen deinem 12. und 14. Lebensjahr wolltest du deinen Geburtstag gar nicht groß feiern. Du hast uns nie verraten, was deine Gründe dafür waren. War es wegen Viannes Erkrankung? Oder weil du nicht wusstest, was man in diesem Alter - zerrissen zwischen cooler Party oder Soccerhalle - eigentlich so macht? Dafür hast du an deinem 15. Geburtstag eine richtig gute Party bei uns zuhause gegeben - und es hat dir gefallen. Do you remember... ? Also: Bist du bereit? Für deine Erinnerungsparty...


Ich bin bereit - und werde es doch nie sein. Wir feiern nicht deinen Geburtstag. Und doch feiern wir dich - einfach weil du da warst und uns alle auf so unterschiedliche Art bereichert und herausgefordert hast. Und wir feiern mit dir - respektvoll und ausgelassen und authentisch. Du wirst mitten unter uns und in unser aller Herzen sein. Wir werden alles daran setzen, dir eine Feier zu bereiten, die dir gefallen hätte. Deswegen bin ich voller Vorfreude, voll des Eifers und voller Aktionismus ... und - ehrlich gesagt - zittern mir andererseits so sehr die Hände. 
Es gibt so viele liebenswerte Menschen um dich herum, um uns herum, die sich so dermaßen engagiert für deine Party einsetzen und dazu beitragen, dass es letztendlich nur ein großartiger Tag werden kann. Wir - Micha und ich - feiern ebenso all' diese Menschen, die dir so nahegestanden haben und immer nahestehen werden. Luke hat ein besonderes Bild für dich auf Leinwand gebracht. "ThARas" Werk ist quierlig bunt und lebendig und bringt Dinge hervor, die dir wichtig waren. 

Ada hat ihre Kunstwerk liebevoll und nur für dich mit Glitzersteinen verziert. Sie schaut noch immer zu ihrem großen Bruder auf. Andi lässt dich auf die ihr eigene typisch-liebenswerte Art wachsen, deine Freunde bringen dich - soweit ich weiß  - richtig in Szene, die Funkes halten für dich einen Knaller bereit, die Scivos lassen ihre Überraschung gewohnt lässig treiben. Taos gesungene Worte werden zu dir durchdringen. Und Viannes Kichern erreicht dich sowieso -  immer und überall. 
Es gab eine Zeit, in der ich überlegt habe, ob ich - wenn es die Möglichkeit geben würde - all meine Erinnerungen an dich löschen lassen würde. Jedes Bild von dir, jede gespeicherte Gestik und Mimik, jeder Gegenstand, den du berührt hast, der dich berührt hat, alles, was mit dir in Verbindung stand hat solch einen unsagbaren Schmerz in mir ausgelöst, der mich nicht nur schier zu überwältigen, sondern oftmals beinahe zu zerreißen drohte. Aber dieser Gedankenmoment der Auslöschung, um den Schmerz zu umgehen, war flüchtig und winzig und keine wahrhaftige Option. Keine einzige Erinnerung an dich, von deinem ersten bis zu deinem letzen Atemzug, werde ich freiwillig abgeben. Also: Do you remember...? Bist du bereit? Ich glaube, ich bin es... Lass uns (dich) feiern! Lasst uns gemeinsam erinnern...

Mittwoch, 8. März 2017

Pläne

Ich treffe dich zuhause noch an so vielen Ecken an: du schaust aus Fotos heraus,  ich sehe ein Buch, das du gelesen hast oder was du noch lesen wolltest (ich wollte damals noch mit dir zusammen "Sophies Welt" durchgehen...). In 2015 hast du dir die Bibel aus unserem Bücherregal auf dein Zimmer geholt. Ich war (und bin es noch) darüber sehr erstaunt, da du dem christlichen Glauben und erst recht der Kirche sehr kritisch gegenüber gestanden hast - ebenso wie ich. Ich habe mir jedoch irgendwann ganz bewusst die Bibel zugelegt, weil ich wissen wollte, was so viele Menschen daran fasziniert und danach leben lässt. Ich wollte mir ein eigenes Bild machen und begann zu lesen, immer auf der Suche danach, worin die eigentliche Macht dieser Schriften und überlieferten Geschichten begründet ist, die sich schon über mehrere tausend Jahre "auf dem Markt" halten. Aber anscheinend hatte ich nicht genügend Durchhaltevermögen, die Schrift als Ganzes zu erfassen. Was war deine Motivation, Jesse?
Ich höre ein Lied im Radio, das du gerne gemocht hast (das passiert allerdings nicht oft, da dein Musikgeschmack nicht "mainstream" war) und bin in Gedanken bei dir. Letztens bekam ich vom Jugendherbergsverband unsere neuen Familienausweise zugeschickt. Für dich war auch einer dabei... Es ist schon pervers, aber mein Fehler, da ich es nie über mich gebracht habe, deinen und Viannes Ausweis zu stornieren. 
Deine Schulinfos - u.a. die Einladung zur Stufenpflegschaftssitzung, Planungsbögen für die Schulllaufbahn, Termineankündigungen -  liegen noch gebündelt in einer Klarsichthülle in unserem Küchenkabuff, neben Adas und Lukes Mappen. Auch dein Schülerstundenplan für die Q1, datiert auf den 15. August 2015, hängt noch immer innen an der Tür zum Kabuff. Ich habe es nicht geschafft, ihn abzuhängen. Ich verweile gerne noch ein wenig in der Vergangenheit - in der Vergangenheit mit dir, auch wenn es schmerzt. Denn neue Erlebnisse kommen leider nicht mehr nach... Aber wir gehen auch mutig neue Wege: Luke ist zum Beispiel in dein Zimmer gezogen - er wollte es gerne und hat letztendlich den Anstoß dazu gegeben, was auch gut und wichtig und richtig war. Aber davon erzähle ich ein anderes Mal...

Es gab so viele wundervolle Pläne und du hattest noch viel vor: Du wolltest deinen Führerschein in 2016 angehen, einen (Halb-)Marathon laufen und deinen 16. Geburtstag feiern. Du hattest dir Unterlagen über Auslandsjahre nach dem Abi zuschicken lassen, dich für verschiedene Unis interessiert. Nachdem deine Gedanken einige Zeit in die Richtung gegangen waren, etwas mit Wirtschaft oder Tourismus u studieren, am liebsten in Münster, bist du irgendwann in Richtung Medizin umgeschwenkt. Das hat mich sehr berührt - insbesondere vor dem Hintergrund von Viannes Erkrankung. 
Auch wir hatten Pläne - mit dir: wir wollten noch die versprochene Berlinfahrt nachholen und irgendwann als begleitender Beifahrer neben dir im Auto sitzen (und schwitzen), wir wollten deinen Abiball mit dir feiern und dich einfach noch etwas länger auf deinem Lebensweg begleiten dürfen... Das geht leider alles nicht mehr. Aber eines geht noch: die Pläne für deine Erinnerungsparty sind ausgearbeitet! Der Termin steht, die Location ist gebucht, die Einladungen sind raus, die Überraschungen organisiert - und am Feinschliff arbeiten wir noch - natürlich mal wieder auf dem letzten Drücker (irgendwie authentisch für mich - und dich). Ich geb Gas, versprochen! Ich bin so voller Tatendrang und Enthusiasmus, und andererseits leicht nervös und aufgeregt. Es soll einfach nur gut werden...
es kommt so sehr von Herzen...


Montag, 9. Januar 2017

Blaubeer-Pfannekuchen

Hey Großer,
es tut mir leid, dass ich mich erst jetzt wieder bei dir melde - ich habe es im Dezember einfach nicht geschafft. Die Vorweihnachtszeit hat mir mehr zugesetzt, als ich mir eingestehen wollte. Ich habe mich so sehr in die Arbeit gestürzt, dass kaum Raum für etwas anderes geblieben ist - sicherlich steckte ein wenig Selbstschutz dahinter. Dabei dachte ich, dass zweite Weihnachten ohne dich würde etwas leichter - eine grobe Fehleinschätzung. Wir haben wieder unseren Familien-Adventskalender aufgehängt. Du erinnerst dich? Vianne durfte am 1. Dezember ein Tütchen öffnen, Ada am 2., Luke am 3., du am 4. ich am 5. und Micha am 6. und so weiter, streng nach Alter. Vianne hat sich immer wahnsinnig gefreut, dass sie sieben Minuten jünger ist als Ada, während die einen Schmollmund zog und lauthals protestierte, dass sie noch einen Tag warten musste.. Wir behalten diese Familientradition bei, auch wenn ihr beide nicht mehr körperlich anwesend sein dürft. An diesem Weihnachtsfest hatten wir vorher mit Luke und Ada besprochen, dass jeder von uns einmal dein und einmal Viannes Adventskalender-Tütchen füllt. Deine Geschwister haben sich wirklich schöne Dinge für dich einfallen lassen. Ada hat ein rosa-grünes Bügelperlen-Pferd für dich gemacht, Luke hat dir zwei seiner Finger-Skateboards geschenkt. Diese Geschenke liegen nun auf deinem Grab. Du wärst stolz auf die beiden, sie halten sich wirklich tapfer. Der Heiligabend verlief bis zum späten Nachmittag ganz gut. Wir hatten uns vormittags - wie auch im vergangenen Jahr - mit Schoofi, Volker und den Kindern zu einer gemeinsamen Treckerfahrt mit anschließender Abenteuerwanderung und vietnamesischen Essen getroffen. Luke hatte bereits am frühen Morgen kleine chinesische Teigbällchen mit Gehacktesfüllung für alle vorbereitet. In einigen hatte er eine Walnuss versteckt... Du würdest dich wundern, wie groß er geworden ist. Auch Ada denkt - nicht nur beim Essen - oft an dich. Letztens haben wir Blaubeer-Pfannekuchen gemacht. Ihr Kommentar: "Jesse hätte sich sicher ganz doll darüber gefreut!" Ich sehe dich immer noch grinsend und mit gezückter Gabel vor einem riesigen Stapel Blaubeer-Pfannekuchen an unserem Küchentresen sitzen...und es kommt mir vor wie gestern. Wenn ich einmal keine Lust hatte, welche zu backen, hast du dir einfach selbst welche zubereitet.  
 
Deine Liebe zu dieser Speise entwickelte sich 2008 in Florida. Du warst gerade einmal acht Jahre alt. Schon am Flughafen bei der Immigration haben wir herzhaft gelacht, als dich der nette Amerikaner bei der Einreise fragte, wie es dir gehe und du "Orlando" geantwortet hast, weil du kein Wort verstanden hast. Du hast behauptet, das läge nicht an deinen mangelnden Englischkenntnissen, sonderen einzig und allein daran, dass deine Ohren  nach dem Langstreckenflug komplett zu seien. Du warst noch nie um eine Ausrede verlegen. Morgens im "All-you-can-eat-Diner" in Orlando hast du dir zahlreiche Pancakes mit frischen Erdbeeren und gebratenem Speck auf den Teller gehäuft und über das ganze Gesicht gestrahlt. Da begann deine Pfannekuchen-Karriere. Nach dem Essen am späten Nachmittag haben wir uns Heiligabend wieder auf den Heimweg gemacht. Zuhause angekommen sorgte erst noch die Bescherung für Kurzweil, doch dann kippte meine Stimmung plötzlich. Ich hatte mir nur kurz vorgestellt, wie glücklich du  Weihnachten vor zwei Jahren beim Geschenkeauspacken geschaut hast - im Stubaital. Diese eine kleine Erinnerung war so schmerzhaft, dass von der vorher bereits gedämpften Weihnachtsfreude nicht mehr viel übrigblieb. Der erste und auch der zweite Weihnachtstag verliefen sehr ruhig und ich erholte mich emotional  ein wenig. Trotzdem war ich heilfroh, zwischen den Feiertagen wieder arbeiten gehen zu können. 
Nun sind wir gerade zur Familienkur im Allgäu und ich  habe die innere Ruhe und auch die Zeit, in deinem Blog zu schreiben. Über den Jahreswechsel ist zudem eine Idee gereift, die dich betrifft und die ich in 2017 endlich in die Tat umsetzen möchte. Eigentlich schwirrt dieser Gedanke schon länger in meinem Kopf herum, am Anfang ganz klein und unscheinbar und oftmals wieder in die hintersten Schubladen meines Denkens verdrängt, wenn ich zu kraftlos und überfordert war. Und doch hat es dieser Gedanke geschafft, sich aus den Tiefen meines Denkens hervorzuarbeiten und zu reifen. Es tut mir noch immer leid, dass wir für dich - ähnlich wie bei Vianne - kein Erinnerungsfest veranstaltet haben. Für mich fehlt da ein offizieller Abschluss - für uns, aber auch für all' deine Freunde und all' die Menschen, die dir nahestanden und nahestehen. Das möchte ich nachholen und zwar wahrscheinlich im März, bevor deine Freunde komplett in den Abiklausuren stecken. Später im Jahr möchte ich dieses Fest für dich nicht anbieten, weil ich Sorge habe, dass es viele deiner Schulkollegen dann bereits in die "große weite Welt" hinausgeszogen hat und sie nicht mehr vor Ort sind. Einen Abschluss finden heißt für mich nicht, dass du aus unseren Gedanken bist. Da wird niemals geschehen. Es ist eher ein symbolisches Abschiednehmen. 
Auch hier im Allgäu nehmen wir dich und Vianne mit - in die Skigebiete. Am Fellhorn haben wir gestern deinen (und Viannes) Namen in den Schnee geschrieben. Der Ort hätte dir gefallen - nichts als Weite und viel Weiß und Berge um dich herum. Das Wetter war so richtig nach deinem Geschmack. Dicke Flocken segelten auf 2000 Metern vom Himmel, es war bewölkt und streckenweise neblig (auch wenn man die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte hat dich das nie vom Fahren abgehalten), butterweicher Neuschnee und Möglichkeiten, abseits der Pisten zu fahren.